Seit ein paar Monaten haben alle den Osten Deutschlands als Thema entdeckt. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Artikel zur extremen Rechten oder zu Neonazis in Ostdeutschland, speziell in Sachsen, oder aber zur Aufarbeitung der Wendegeschichte und zu den Ungleichheitsverhältnissen zwischen Ost- und Westdeutschland erscheinen würde. Und das ist gut so! Es ist gut, dass seit „Chemnitz“ die im Osten weitaus stärker ausgeprägten menschenfeindlichen und rassistischen Einstellungen analysiert und thematisiert werden.
Es es ist ebenso wichtig, nach den tieferliegenden Erklärungsmustern für den Erfolg der extrem rechts stehenden AfD und der offenen Solidarisierung mit Neonazis auf Chemnitz‘ Straßen zu suchen. Vor allem, da mit den Kommunalwahlen parallel zur Europawahl und den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Herbst ein weiterer Machtgewinn der AfD sicher scheint, bis hin zu einem möglichen Wahlsieg in Sachsen.
Dass das aber teils genüsslich zurücklehnend geschieht, weil es ja „nur den demokratiefernen Osten“ betrifft oder gleich zynisch respektlos die Forderung nach dem „Wiederaufbau der Mauer“ oder die Mär vom „vergeudeten Aufbau Ost durch unseren Soli“ durch die Kommentarspalten der linken Filterbubble zirkuliert, macht mich regelmäßig wütend. Nicht, dass ich den Frust, die depressive Stimmung bis hin zum aufgebenden Zynismus nicht verstehen könnte. Es fühlt sich oft an, als würde die ganze Arbeit nichts bringen, als könnten wir nicht genug tun gegen immer mehr Nazis, AfD-Wähler*innen und deren politisches und behördliches Hofiert-Werden, das ganz speziell in Sachsen immer wieder unfassbare Ausmaße erreicht.
Aber trotzdem bleibt, den Osten aufzugeben, die schlechteste Option, die wir haben. Wir müssen weg vom Zynismus, weil der letztlich nur eines heißt: wir akzeptieren, verloren zu haben. Es überlässt den Rechten, den Nazis den Raum und tilgt allen Widerstand, der sich noch regt. Ein antifaschistisches und emanzipatorisches Verständnis darf sich diesem Zynismus nicht hingeben. Wer das „Nie wieder“ ernst meint, kann nicht nur dort dafür streiten, wo „Wir sind mehr“ regelmäßig zutrifft. Es ist ungleich härter, sich in Chemnitz, in Heidenau, in Freiberg und Plauen den Nazis in den Weg zu stellen, als in Köln oder Hamburg – aber es ist wahrscheinlich noch deutlich wichtiger. Und es wird übrigens auch gemacht – oft genug in Unterzahl.
„Chemnitz“ hat im vergangenen Jahr auch gezeigt, dass wir in weiten Teilen des deutschen Südens, Westens und Nordens weiterhin einen antifaschistischen Grundkonsens haben. Chemnitz hat auch dazu beigetragen, dass überall in Deutschland mehr Leute gegen rechts aktiv geworden sind, mit großer Sicherheit auch dazu, dass zehntausende in Hamburg bei der antirassistischen Parade von We'll Come United waren und eine Viertelmillion Menschen in Berlin bei der #unteilbar-Demonstration. Und auch in Rostock, Leipzig, Dresden und Chemnitz und überall sonst im Osten gibt es immer mehr Menschen, die antifaschistische und emanzipatorische Politik machen. Nur dass sie eben nicht mehr sind, sondern oft genug weniger. Dass sie weitaus stärker als im Westen in der Presse und von der parlamentarischen Politik diffamiert werden. Dass ihnen finanzielle Unterstützung entzogen wird. Dass ihnen weite Teile der Gesellschaft ignorant bis ablehnend gegenüber stehen. Dass sie stärker kriminalisiert, von der Polizei drangsaliert und vom sogenannten Verfassungsschutz bespitzelt werden. Und gerade deshalb brauchen wir praktische Solidarität mit allen, die unter diesen Umständen weiterhin aktiv sind und sich dagegen auflehnen, den Osten abzuschreiben. Wir brauchen Angebote und Unterstützung für diejenigen, die sich einbringen wollen. Und wir brauchen eine kritische und reaktive Öffentlichkeit, die der Polizei im Osten auf die Finger schaut und das Treiben von alten und neuen Nazis in Parlamenten, in Vereinen und auf den Straßen öffentlich macht und ihnen keine ruhige Minute gönnt. Denn was wir auch sehen, der Druck wirkt. Behörden und Regierungspolitik in Sachsen mussten in den letzten Monaten mehrfach deutlich zurückrudern. Dass beispielsweise die Forderung nach Auflösung des sächsischen Verfassungsschutzes und die Absetzung seines Chefs offen diskutiert wird, anstatt das Narrativ des Linksextremismus unkommentiert stehen zu lassen, ist (traurigerweise) ein Erfolg.
Der Dresdner Zusammenschluss critique‘n‘act hat im Februar 2019 einen wichtigen Text unter der Überschrift „Kaltland nicht aufgeben“ veröffentlicht. Sie beschreiben sehr genau in welcher Situation sie sich befinden und was an Unterstützung, auch von außen, benötigt wird. In den Vorschlägen ist für jede und jeden was zu finden. Solange die Leute vor Ort nicht aufgeben, dürfen wir das erst recht nicht tun.
In den kommenden Monaten bis zu den Landtagswahlen ist viel geplant: eine Konzert- und Marktplatztour unter dem Motto „Wann wenn nicht jetzt“, ein erneutes Klimacamp im von Abbaggerung bedrohten Dorf Pödelwitz bei Leipzig, die Gegenproteste zum extrem rechten Tag der deutschen Zukunft in Chemnitz, die nächste Unteilbar-Großdemonstration in Dresden am 24. August. Das sind einige gute Möglichkeiten, um sich einzubringen.
Dieses Interview erschien zuerst in der Ausgabe 440 der Zeitschrift Graswurzelrevolution vom Juni 2019.