Seit Dezember 2023 läuft am Landgericht Dortmund der Strafprozess gegen fünf Polizist*innen, die am 8. August 2022 an der Erschießung von Mouhamed Lamine Dramé beteiligt waren. Als Grundrechtekomitee sind wir durchgängig zur Prozessbeobachtung vor Ort.
Mittlerweile zeichnet sich deutlich ab, worin die Strategie der Polizist*innen und ihrer Verteidigung besteht, um möglichst straffrei aus dem Prozess zu kommen. Die vor Gericht entworfene Geschichte offenbart im besten Falle völlige Inkompetenz, im schlimmsten Falle zeigt sie eine todbringende Geringschätzung menschlichen Lebens - und keine Skrupel, dies öffentlich und im Gericht so zu vertreten.
Wie wir durch Zeug*innen wissen, stand Mouhamed am 8. August 2022 leicht vorn über gebeugt im Hof einer Dortmunder Jugendeinrichtung und hielt sich ein Messer an den Bauch. Er war völlig in sich gekehrt, auf seine Betreuer*innen reagierte er nicht und sie wussten sich nicht anders zu helfen, als einen Notruf abzusetzen. Was die insgesamt zwölf Beamt*innen vorfanden, heißt im Polizeisprech “statische Situation”.
Polizist*innen in ziviler Kleidung versuchten kurz, Mouhamed anzusprechen. Als dieser nicht auf die Ansprache reagierte, gab der Einsatzleiter den Befehl, Pfefferspray einzusetzen. Damit beendete die Polizei die bis dahin ruhige, statische Situation. Nachdem Beamt*innen eine große Menge Pfefferspray gegen Mouhamed eingesetzt hatten, stand er auf und bewegte sich in Richtung der einzigen Fluchtmöglichkeit, die es aus dem Hof hinaus gab. Dort waren aber Beamt*innen mit Taser und Maschinenpistole postiert. In der Folge schossen zwei Beamt*innen ihre Elektroschockpistolen auf Mouhamed. Mit weniger als einer Sekunde Verzögerung schoss auch der Polizist mit der Maschinenpistole mehrfach auf Mouhameds Körpermitte. Mouhamed verstarb am selben Tag an seinen Verletzungen.
Die Polizist*innen geben im Gericht zum Pfeffersprayeinsatz an, dies sei ihr normales Vorgehen: Sie würden gegen suizidäre Personen gewöhnlich Pfefferspray einsetzen, um diese dazu zu bringen, sich an die Augen zu fassen und etwaige Waffen fallenzulassen. Das sei auch hier der Plan gewesen. Elektroschock- und Maschinenpistole seien nur „zur Eigensicherung“ mitgeführt worden. Als Mouhamed sich dann nach dem Pfeffersprayeinsatz auf sie zu bewegt habe, hätten sie sich in einer Notwehrsituation gesehen, sich vor ihm schützen und schießen müssen. Auf Rückfrage im Gericht, erklären sie, sie könnten keine Fehler in ihrem Vorgehen erkennen, nur habe sich Mouhamed nicht wie erwartet verhalten. Selbst wenn man dieser Geschichte Glauben schenkt, kann man nur verwundert und schockiert darüber sein, mit welch umfassender Inkompetenz die Polizei Dortmund derlei Einsätze bestreitet.
Egal welches Einsatzhandbuch man zum Umgang mit suizidären Personen oder Menschen in psycho-sozialen Ausnahmesituationen konsultiert, der Tenor bezüglich der polizeilichen Handlung bleibt gleich: Distanz wahren, kommunizieren, nichts Hektisches tun; möglichst Expert*innen, etwa Psycholog*innen hinzuziehen; Waffen (wie eben Pfefferspray) nur in akuter Gefahrenlage und „dynamischer Situation“ einsetzen. Wie gesagt: In Dortmund fand die Polizei eine statische Situation vor, Mouhamed stand unbeweglich da. Es hätte alle Zeit der Welt gegeben, ein Vorgehen zu wählen, das die Unversehrtheit Mouhameds priorisiert.
Die Entscheidung zum Pfeffersprayeinsatz steht im Zentrum des gesamten Vorgehens, weil es die statische Situation eskalierte. Die vorhandene Literatur zeigt, dass von Pfefferspray starke körperliche Beeinträchtigungen bis hin zum Tod ausgehen können. Auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Todesfällen. Entsprechend darf es polizeilich nur in absoluten Ausnahmefällen und dann auch nur in geringer Menge eingesetzt werden. Dass die Polizei mit voller Absicht gegen einen mutmaßlich suizidalen Menschen eine große Menge Pfefferspray einsetzt, um diesen zum Fallenlassen eines Messers zu bewegen, widerspricht sämtlichen Vorgaben. Es handelt sich um eine Körperverletzung, die laut Dortmunder Polizei gar zu ihrem Standardrepertoire gehört. Hier hat sich offenbar eine Polizeipraxis verselbständigt, Körperverletzung gegenüber besonders vulnerablen Personen wird normalisiert.
Selbst wenn man den Aspekt der Körperverletzung für einen Moment ausblendet, so ist es eben alles andere als gewiss, dass der polizeilich gewünschte „Erfolg“ eintritt. Pfefferspray ist nicht immer wirksam, einige Personen reagieren nicht oder nicht direkt auf dessen Anwendung. Einige Studien deuten darauf hin, dass es bei Menschen in psychischen Krisen sogar weniger wirksam sein kann. In diesem Fall sollte vorgeblich sogar eine bestimmte Handlung erzeugt werden (das Fallenlassen des Messers), was noch unwahrscheinlicher ist. Es ist somit nicht nur aus menschenrechtlichen, sondern auch aus einsatztaktischen Gründen komplett fahrlässig, Pfefferspray einzusetzen. Ignoriert man dieses Wissen, misst man dem Leben, das man zu schützen gerufen wurde, nicht genug Bedeutung bei.
Dass es nun vor Gericht als folgerichtig dargestellt wird, nach der chemischen Waffe noch Taser und Maschinenpistole abzufeuern, ist nicht hinnehmbar. Die Polizist*innen hatten die Situation durch ihren Angriff auf Mouhamed selbst eskaliert. Von ihnen ging in diesem Moment die Gefahr aus. Dass für sie dann nur eine mögliche Deutung seiner Bewegung in Frage kommt, nämlich dass er sie hätte angreifen wollen, muss ebenso hinterfragt werden. Anstatt auf ihn zu schießen, hätten sie ihm aus dem Weg gehen können, gar müssen. Dass ein schwarzer Jugendlichr oder junger schwarzer Mann ausschließlich als bedrohlich gelesen werden kann und keine andere Deutung als diese überhaupt zulässig erscheint, muss als rassistisches Deutungsmuster benannt werden. Die Polizei ist in ihrem Handeln nicht in der Lage und willens, die Unversehrtheit von Menschen in Krisensituationen ins Zentrum zu stellen und entsprechend zu agieren.
Akzeptiert das Gericht dieses Framing und urteilt, dass das Vorgehen der Beamt*innen am 8. August angemessen gewesen sei, werden die polizeiliche Geringschätzung menschlichen Lebens und deren tödliche Folgen weiter normalisiert.
Literatur:
Wittmann, Linus. (2021). Braucht die Polizei multiprofessionelle Ansätze für die Interaktion mit psychisch erkrankten Menschen?. 24-29.
Staller, Mario & Koerner, Swen. (2022). Handbuch polizeiliches Einsatztraining: Professionelles Konfliktmanagement – Theorie, Trainingskonzepte und Praxiserfahrungen.
McCulloch, J. (2000). Policing the Mentally Ill. Alternative Law Journal, 25(5), 241-244.
Feltes, Thomas & Alex, Michael. (2020). Polizeilicher Umgang mit psychisch gestörten Personen. (sic!)
Wright, Steve (2001). Pfefferspray „gefährdet die Gesundheit“ – Vermarktung, Einsatz und gesundheitliche Risiken. In: CILIP Ausgabe 069
Feltes, Thomas (2016). „Begrenztes Risiko“? Polizeilicher Einsatz von Pfefferspray bei Fußballspielen. In: CILIP Ausgabe 110
Wissenschaftliche Dienste des Bundestags (2010). „Pfefferspray“ – Wirkung und gesundheitliche Gefahren
Haar RJ, Iacopino V, Ranadive N, Weiser SD, Dandu M. (2017). Health impacts of chemical irritants used for crowd control: a systematic review of the injuries and deaths caused by tear gas and pepper spray. BMC Public Health.
Cohen, Michael D. (1997). Human Health Effects of Pepperspray - A Review of the Literature and Commentary. In: Journal of Correctional Health Care Volume: 4 Issue: 1 Dated: (Spring 1997) Pages: 73-88