Auf den Straßen Deutschlands wird so viel protestiert wie schon lange nicht mehr. Kaum ein Wochenende vergeht, an dem nicht irgendwo zehntausende Menschen gemeinsam demonstrieren. Sei es in orange unter dem Namen „Seebrücke“ gegen die europäisch verfügte Unterlassung von Hilfeleistungen im Mittelmeer, für sichere Fluchtwege sowie offene Häfen. Sei es für den Erhalt des Hambacher Waldes, für den sofortigen Kohleausstieg und für eine verantwortliche Klimapolitik, die nicht partikulare Konzerninteressen vor die Zukunftsperspektiven aller Bürger*innen stellt. Sei es gegen eine autoritäre Verschärfung von Polizeigesetzen, die verstärkt auf Überwachung und Kontrolle setzen und für ein vermeintliches Mehr an „Sicherheit“ kurzerhand Bürger- *innen- und Freiheitsrechte kassieren. Sei es gegen den aufschäumenden Rechts-populismus, die selbstherrliche Politik der CSU und des Innenministers Seehofer. Sei es unter dem Motto „We’ll come United“ für eine solidarische Gesellschaft der gleichen Teilhabe und Rechte, gegen Rassismus, Ausgrenzung und Abschiebungen. Sei es gegen stetig steigende und mittlerweile existenzbedrohende Mieten. So viele Menschen auf den Straßen gegen reaktionäre Entwicklungen und für emanzipatorische Zukunftsentwürfe, das gab es lange nicht mehr. Das macht Mut.
Gleichzeitig können wir nicht die Augen verschließen vor den entgegengesetzten Entwicklungen. Denn es sind ebenso tau-sende bis zehntausende Menschen auf den Straßen, um ein rechtsnationalistisches Weltbild zu verklären, das diejenigen ausgrenzt, denen kein Recht auf ein Leben in diesem Land – oder auf ein Leben all-gemein – zugestanden wird. Ob bei Pegida-Demonstrationen in Dresden, bei denen die Massen beim Thema Mittelmeermigration „absaufen“ skandieren. Oder sei es die selbsternannte, extrem rechte Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die nach dem gewaltsamen Tod eines Chemnitzers zusammen mit Neonazis und Hooligans gegen „Ausländerkriminalität“ demonstriert und damit seit Wochen tausende Menschen mobilisieren kann. Zu erinnern ist auch an die zehntausenden Anhänger- *innen des türkischen Präsidenten Erdoğan, die diesem kürzlich in Köln frenetisch zujubelten und dabei auch offen den Wolfsgruß, das Handzeichen der türkischen Faschisten zeigten. Die Selbstverständlichkeit, mit der Neonazis und Faschisten ihre menschenfeindlichen Ideologien offen auf die Straßen tragen, kann nur erschrecken. Erst recht, wenn mittlerweile tausende Bürger*innen bei den Umzügen Spalier stehen, weil sie ihre Interessen bei den Rechtsnationalisten vertreten sehen und mit ihnen sympathisieren. Gesellschaftliche Inhumanität und Menschenfeindlichkeit brechen sich Bahn, wenn jene, die nach völkisch rassistischen Vorstellungen nicht in die nationale Gemeinschaft gehören, am Rande rechtspopulistischer Umzüge angegriffen und johlend durch Straßen gejagt werden.
Unser Ziel ist es, diese Dynamiken und Bewegungen politisch einzuordnen. Wir wollen verstehen und aufzeigen, wie disparate gesellschaftspolitische Entwicklungen ineinandergreifen. Was hat beispielsweise der Protest für den Erhalt des Hambacher Waldes mit den Demonstrant*innen in Chemnitz zu tun? Auffallend, wie unterschiedlich von Regierungs- und behördlicher Seite agiert wird. Im Hambacher Wald werden Waldschützer*innen mit Schmerzgriffen und Schlägen aus Sitzblockaden geräumt, während die Polizei in Chemnitz hitlergrüßende Nazis innerhalb einer Demonstration gewähren lässt. Und was hat das Engagement gegen Rassismus mit dem gegen die Polizeigesetzverschärfungen zu tun? Ein Blick nach Bayern zeigt, vor allem Geflüchtete sind von den erweiterten Polizeibefugnissen betroffen. Nach Inkrafttreten des neuen Polizeiaufgabengesetzes wurde zunächst alleinig Geflüchteten anhand des neuen unbestimmten Rechtsbegriffs „der drohenden Gefahr“ die Freiheit entzogen.
Es kommt also nicht von ungefähr, dass die unterschiedlichen, progressiven zivilgesellschaftlichen Bewegungen zusammenfinden, ihre Forderungen verbinden und miteinander auf die Straße gehen. So beispielsweise auf der komiteelich unterstützten Großdemonstration am 13. Oktober in Berlin unter dem Motto „unteilbar - Solidarität statt Ausgrenzung – für eine offene und freie Gesellschaft“. Aber auch die extreme Rechte konsolidiert sich: in Chemnitz marschierten am 1. September erstmals AfD und Pegida offen zusammen mit Neonazis: ein öffentlicher Schulterschluss des völkisch-rechtsnationalistischen Parlamentarismus mit gewalttätigen NS-verherrlichenden Umstürzler*innen.
Die Zukunft unserer Gesellschaft ist aktuell hart umkämpft. Ob wir den Weg zu einer offenen und solidarischen, einer demokratisch menschenrechtlich orientierten Gesellschaft beschreiten werden, oder ob sich ausgrenzender, völkischer Nationalismus durchsetzen wird, bleibt (noch) offen. Es gibt Zeiten, da können wir uns aus den politischen Kontroversen und Kämpfen nicht heraushalten, da müssen wir uns den zivilgesellschaftlichen Initiativen, die Wege ins Offene und Freie suchen, anschließen und sie unterstützen.
Britta Rabe, Dirk Vogelskamp, Michèle Winkler