Am 5. September 2018 fand ausgehend vom Bahnhof Buir eine Demonstration unter dem Motto "Grundrechte Verteidigen – Hambacher Forst erhalten" statt, an der rund 700 Menschen teilnahmen. Anlass war die Einstufung des gesamten Hambacher Forstes als "gefährlicher Ort" durch die Polizei und weitere polizeiliche Einschränkungen, wie zum Beispiel die Behinderung von Pressevertreter*innen. Das Grundrechtekomitee wurde gebeten, eine Rede zum Umgang mit den Grundrechten im Konflikt um den Hambacher Forst zu halten, die wir untenstehend dokumentieren.
Seitdem ist viel passiert. Schon am Folgetag fiel der erste Baum, außerhalb der Rodungssaison. Die Aktivist*innen riefen den sogenannten "Tag X" aus und kündigten widerständige Aktionen an. Am 13. September begann die Polizei mit täglich bis zu 3500 Polizist*innen die Räumung der rund 50 Baumhäuser unter dem Vorwand, dass diese nicht den Brandschutzanforderungen genügten. Die Räumung und die einhergehende Zerstörung des Waldes beherrschen seitdem die bundesweite Presse und werden auch international kritisch diskutiert. Immer mehr Menschen kommen als Unterstützer*innen in den Wald, sei es zur Verteidigung der Baumhäuser, zu den Sitzblockaden, um die Räumungen zu verzögern oder um sich bei einem der sonntäglichen Waldspaziergänge ein eigenes Bild zu machen und den Waldbewohner*innen ihre Unterstützung zu signalisieren. Obwohl sich sogar die Gewerkschaft der Polizei und der Bund deutscher Kriminalbeamter gegen den Einsatz aussprachen, hält die Landesregierung an der Räumung und der von RWE geplanten Rodung fest und erntet damit stetig wachsendes Unverständnis.
Der sich zuspitzende Konflikt forderte am 19. September ein Menschenleben, als ein Journalist und Freund der Besetzer*innen von einer Hängebrücke stürzte. Leider führte dieser tragische Unfall nur zu einem kaum spürbaren Innehalten: Die Räumungen wurden zwar zunächst ausgesetzt, allerdings wurde keine Polizei abgezogen, sondern verblieb mit schwerem Gerät im Wald. Schon am Folgetag stellte der Innenminister Reul Forderungen an die Waldschützer*innen und am 24. September - nur fünf Tage nach dem Unglück - wurden die Räumarbeiten fortgesetzt. Die von vielen Beteiligten benötigte Zeit der Ruhe und Trauer wird nicht gewährt. Die Landesregierung hätte gut daran getan, in dieser Situation den Einsatz zu stoppen, die Polizei abzuziehen und in Ruhe über die Sinnhaftigkeit des gesamten Einsatzes zu beraten. Klar ist, dass die Waldschützer*innen sich nicht zurückziehen werden und ihr Rückhalt in der Bevölkerung stetig wächst. Mittlerweile ist kaum mehr vermittelbar, warum ein einzigartiges Waldstück entgegen der Interessen der Bevölkerung, allein zu Gunsten einer aussterbenden Industrie gerodet werden soll. In ganz Deutschland und sogar in einigen europäischen Städten finden Solidaritätskundgebungen statt. Für die kommenden Wochen sind weitere Großdemonstrationen und Aktionen des Zivilen Ungehorsams angekündigt. Wir stehen an der Seite der Waldschützer*innen, die nicht nur für den Erhalt des Hambacher Forstes, sondern für eine Abkehr vom fossilen Kapitalismus und eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen kämpfen.
Liebe Gefahrengebietsdurchquerer*innen,
mein Name ist Michèle und ich bin heute hier als Vertreterin des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Diese Demonstration steht unter dem Motto „Grundrechte Verteidigen – Hambacher Forst erhalten!“ und deswegen möchte ich ein paar Worte zum Umgang mit den Grundrechten in diesem Konflikt sagen.
Die Landesregierung pocht darauf, dass sie und RWE das Recht auf ihrer Seite hätten. Sie argumentieren dabei mit Rahmenbetriebsplänen, Eigentumsrechten und Versorgungssicherheit. An diesen Argumenten allein wäre schon viel auszusetzen, das können aber andere detaillierter als ich. Worauf ich hinweisen möchte, ist, dass eine Landesregierung eben nicht nur Eigentümern und Konzernen verpflichtet ist, sondern auch und vor allem dem Wohlergehen aller Bürger*innen.
Dazu gehört der Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und auch der Menschenwürde. Dabei scheint es in den letzten Wochen vermehrt, als wären diese Schutzgüter für diejenigen aus dem Blickfeld geraten, die sich im und um den Hambacher Forst für dessen Erhaltung engagieren. Über Jahre hinweg werden die Menschen im und um den Hambacher Forst zu Straftätern und Kriminellen stilisiert. Sie werden pauschal als Gewalttäter bezeichnet und ihnen somit diskursiv jedes Recht auf eine faire und menschenwürdige Behandlung abgesprochen.
Unter Zuhilfenahme dieser Erzählung wird die Polizei mit immer weiter greifenden Befugnissen ausgestattet und greift mittlerweile zu Maßnahmen, die nicht nur die Würde und Unversehrtheit vieler Betroffener missachtet, sondern Leben gefährdet. Dass in diesem Gebiet Menschen und Autos mittlerweile unter vorgehaltener Waffe durchsucht werden, ist nicht hinnehmbar. Dass unter Zuhilfenahme des polizeilichen Konstrukts eines sogenannten „gefährlichen Ortes“ alle Menschen, die im und am Hambacher Wald angetroffen werden, kontrolliert und durchsucht werden können, ebenso wenig. Auch das Zerstören von Wohnraum, von Toiletten, Lebensmittel- und Wasservorräten kann nur als entwürdigende Schikane bezeichnet werden.
Und die Polizeiarbeit nimmt immer groteskere Züge an. So wurde im August unter massivem Polizeiaufgebot ein Baumhaus beschlagnahmt – mit der kuriosen Begründung einen Wald vor einem „Fremdobjekt“ schützen zu müssen, der nun unter Polizeischutz gerodet werden soll. Letzten Freitag, am 31. August, wurden Mal-Utensilien zweier Künstler*innen beschlagnahmt und ein Malverbot verhängt. „Aus Holzständern könnten Speere geschnitzt und die Farben zu Molotowcocktails gerührt werden.“ Die Kunstfreiheit: im Hambacher Forst gefährlich!
Auch Pressevertreter*innen berichten von Einschränkungen und Schikanen: unter anderem wurden Presseausweise vorläufig beschlagnahmt. Ob in Dresden bei Pegida, in Hamburg bei G20, aktuell in Chemnitz bei Naziaufmärschen oder im Hambacher Forst: immer dann, wenn die Presse an der freien Ausübung ihrer Arbeit gehindert wird, ist es Zeit, ganz genau hinzuschauen!
Wichtig sind auch noch ein paar Worte zur Einstufung des Hambacher Forstes als „gefährlicher Ort“ - der Hauptgrund unserer heutigen Demonstration: durch diese Einstufung ist es der Polizei möglich, nun alle Personen zu kontrollieren und zu durchsuchen, die sich in der Gegend aufhalten. Damit werden alle Menschen unter Generalverdacht gestellt, ihre freie Meinungsausübung sowie das Demonstrationsrecht beschnitten, wie schon in den letzten Tagen hier geschehen.
Auch diese Maßnahme dient dazu, die Menschen diskursiv in den Schmutz zu ziehen und zu kriminalisieren, die sich hier vor Ort engagieren. Innenminister Reul präsentierte zur Untermalung der Gefährlichkeit ein Sammelsorium an vermeintlichen Waffen und gefährlichen Gegenständen, musste aber kurz darauf zurückrudern und eingestehen, dass dies eine Sammlung der letzten Jahre sei. Allerdings sei der Widerstand seiner Meinung nach radikaler geworden – ein Mantra, dass Polizei und Regierung seit Monaten wiederholen.
An dieser Stelle ist es mir wichtig, den Blick kurz über NRW und den Hambacher Forst hinaus zu heben. In einer Woche, in der ganz Deutschland gebannt nach Chemnitz blickt und deutlich wird, wie sehr die Verharmlosungsstrategie der sächsischen CDU dazu beigetragen hat, dass sich dort in einer Woche viermal Nazis und Rechte in unfassbar hoher Zahl zusammen fanden und zum Teil Jagd auf Menschen machten, verkündet der Innenminister in NRW, dass er sich jetzt vermehrt um sogenannten Linksextremismus kümmern wolle. Ein so eklatantes Unverständnis für politische Zusammenhänge und Notwendigkeiten macht einfach nur fassungslos.
Aber nun noch einmal zurück zum Hambacher Forst: denn über einen Artikel im Grundgesetz möchte ich in dem Zusammenhang unbedingt noch sprechen: Artikel 20a, der besagt:
"Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung."
Dieser Verantwortung wird aktuell weder die Landes- noch die Bundesregierung gerecht. Und das ist der Grund, warum sich hier an diesem Ort immer mehr Menschen versammeln, weil sie nicht mehr hinnehmen können, wie das Recht auf Leben, auf Natur, auf Zukunft missachtet wird.
Wir stehen hier an der größten CO2-Quelle Europas. Ganz genau hier kann einem Grund für den Klimawandel physisch begegnet werden. Und hier kann der richtige Impuls für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gesetzt werden. Gute Politik bemisst sich nicht daran, auf Teufel komm raus an einer einmal gefassten Entscheidung festzuhalten und diese ohne Rücksicht auf Verluste durchzudrücken. Es ist nicht zu spät, das richtige Zeichen zu setzen. Die Erhaltung des Hambacher Forstes wäre der erste notwendige Schritt in die richtige Richtung.
In diesem Sinne: Hambi bleibt!
Es gibt auch einen Videomitschnitt der Rede - Achtung, der Link geht auf Facebook.