Als strenge Geheimsache wurde die neue NATO-Strategie, die beim Gipfel von Lissabon verabschiedet werden soll, von Generalsekretär Rasmussen behandelt. Nur die Regierungen selbst, nicht einmal die Parlamente, waren an der Diskussion des Dokumentes beteiligt. Soviel zum demokratischen Selbstverständnis des Bündnisses, das beansprucht, „Demokratie“ in alle Welt exportieren zu müssen.
Artikel von Martin Singe aus FriedensForum 6/2010
Die Umrisse des Dokumentes sind vorab soweit über sekundäre Veröffentlichungen bekannt, dass zu den gravierendsten Punkten kritisch Stellung bezogen werden kann. Zumal das Papier relativ allgemein gehalten ist und in vielen Punkten einen Kompromiss zwischen teils divergierenden Interessen der verschiedenen Mitglieder darstellt. Auch 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges bleibt die NATO ein kriegsbereites Bündnis, das die Interessen der westlich-kapitalistischen Staaten absichern und durchsetzen will. Zu Guttenberg hat vor Kurzem noch einmal unter Bezug auf das Weißbuch der Bundeswehr von 2006 betont, dass Ziele wie die Sicherung von Energie und Rohstoffen zu den strategischen Interessen des Bündnisses gehörten. Die USA bleiben darin die dominante Macht, die für solche Zwecke aber auch jeweils „Koalitionen von Willigen“ aus dem Kreis der NATO-Staaten und darüber hinaus bilden kann.
In verhängnisvoller Weise wird im strategischen Konzept die Position zu den Atomwaffen festgeschrieben: Solange andere Staaten Atomwaffen besitzen, wird die NATO an ihren Atomwaffen festhalten. Statt sich endlich auf das Konzept einer Nuklearwaffenkonvention zum globalen Abbau dieser Waffen einzulassen, wird die weltweite Atomwaffenaufrüstung und -verbreitung auf diese Weise zunehmen. Auch Europa und die Bundesrepublik sollen in die nukleare Teilhabe durch dort stationierte Atomwaffen einbezogen bleiben. Nukleare Rüstungskontrolle wird nur im Kontext von Modernisierungen eine Rolle spielen. Details der Nuklearstrategie sollen in einem geheimen Anhang zum Hauptdokument festgelegt werden.
Auch im Bereich der konventionellen Rüstung werden die Mitgliedstaaten zu verstärkter Aufrüstung für weltweit einsatzfähige Kapazitäten und zur Effektivierung ihrer Rüstungsanstrengungen aufgerufen. So werden qualitative und quantitative Aufrüstung in den Vertragsstaaten sowie deren Rüstungsexporte vorangetrieben und ungeheuerliche anderweitig dringend benötigte Ressourcen in den militärisch-industriellen Komplex gepumpt.
Der geplante Raketenabwehrschirm – ob mit oder ohne Einbindung Moskaus – wird dazu beitragen, Atomwaffen zu verewigen und Ansätze von Abschreckungsbalancen zu unterlaufen. Ein Abwehrschirm zwingt potentielle Gegner zu massiver Über-Rüstung, um die Chance zu haben, mit einigen Raketen durchzukommen. Gleichzeitig erhöht ein Abwehrschirm die eigene Erstschlagskapazität. Abwehrsysteme würden nur Sinn machen, wenn gleichzeitig auf Angriffswaffen verzichtet würde, also wenn man auf strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit umrüsten würde. Zudem ist das Raketenabwehrprojekt ein zusätzliches gefundenes neues Fressen für die Rüstungsindustrie.
Die klassische Territorialverteidigung wird – trotz fehlender Feinde im Umland – im Konzept betont, um die östlichen NATO-Staaten zu befriedigen. Allerdings gehen alle strategischen Planungen weiterhin in Richtung weltweiter „Kriseneinsätze“. Während der Bündnisfall nach Art. 5 NATO-Vertrag nur bei bewaffneten Angriffen – dazu gehören natürlich auch Terrorangriffe wie der 11.9. - eintreten soll, kann jedes Bündnismitglied bei gefühlten Bedrohungen der eigenen Sicherheit Konsultationen nach Art. 4 verlangen. Hierzu können dann „Bedrohungen“ wie „Angriffe“ auf die Energieversorgung, Ressourcen-Zuflüsse, Handelswege oder die jüngst diskutierten Cyber-Attacken gehören. Da auch nach Art. 5 kein militärischer Beistandsautomatismus eintritt, sondern jeder Staat seinen Beitrag selbstständig beschließen kann, kommt der Unterscheidung zwischen Art. 4-Einsätzen und Art. 5-Einsätzen marginale Bedeutung zu. Was im alten strategischen Konzept als „Nicht-Artikel-5-Einsätze“ gehandelt wurde, kann und soll also jederzeit weiter betrieben werden.
Zwar wird auf das Völkerrecht Bezug genommen: die NATO solle daran gekoppelt sein. Jedoch fehlt eine strikte und ausnahmslose Bindung an die UNO-Charta. Natürlich soll die UNO möglichst als Legitimationsmaschine genutzt werden. Im Selbstverständnis positioniert sich die NATO jedoch zunehmend als globalisierte NATO in Konkurrenz zur UNO: während dort auch die „Schurkenstaaten“ mit am Tisch sitzen, sieht sich die NATO als das Bündnis der „freien und demokratischen“ Staaten, das gegebenenfalls mit höherer Legitimation militärisch – natürlich zugunsten der „Menschenrechte“ – intervenieren dürfe. „Nation-Building“ („Zerschlagen, Umbauen, Dirigieren“; IMI-Kongress-Motto 2010) wird auf der NATO-Agenda bleiben, wenn es darum geht, unwillige Staaten in die geostrategischen und wirtschaftspolitischen Zielrichtungen einzufügen. Der für diese Ziele bemühte „Comprehensive Approach“ ist vor allem gefährlich, weil zivile Elemente systematisch militärstrategisch integriert werden (zivil-militärische Zusammenarbeit) und damit eigenständige zivile Konfliktlösungen verhindern.
Zur tendenziell die UN torpedierenden Globalisierungsstrategie der NATO gehört auch die zunehmende Ein- oder Anbindung weiterer Staaten außerhalb des nordatlantischen Raums, wie Australien, Neuseeland, Südkorea, Indonesien, Malaysia und Japan, die sogar als potentielle NATO-Mitglieder gehandelt werden. Wesentliche Teile Asiens würden so strategisch integriert, während über den sog. Mittelmeerdialog der NATO das nördliche Afrika bereits eingebunden ist.
Gegenüber Russland wird eine etwas konstruktivere Sprache genutzt, die Rede ist von einem gemeinsamen Sicherheitsraum. Jedoch bleibt das NATO-Konzept weit davon entfernt, eine wirkliche Sicherheitsarchitektur für ganz Europa zu entwickeln, wie von Medwedjew vorgeschlagen. Ein solches Konzept, bis hin zur vollständigen Einbindung Russlands, könnte die NATO noch überflüssiger machen, als sie es friedenspolitisch ohnehin ist. Auch bremsen die osteuropäischen NATO-Staaten hinsichtlich der Kooperation mit Russland, das von ihnen weiterhin als Bedrohung wahrgenommen wird.
Das letzte strategische Konzept der NATO wurde 1999 während des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der NATO auf Jugoslawien vorgestellt. Das neue Konzept wird beschlossen in einer Zeit, in der die NATO seit neun Jahren im Krieg gegen Afghanistan steht, für den das erste Mal der Bündnisfall bemüht wurde. Der ISAF-Einsatz in Afghanistan ist mit dem völkerrechtswidrigen OEF-Krieg inzwischen so verschmolzen, dass er selbst auch als völkerrechtswidrig bezeichnet werden muss. Die NATO bleibt ein Kriegsbündnis, das sich allen wirklichen friedenspolitischen Konzepten für eine gemeinsame und gerechte Welt verschließt. Dem NATO-Kriegskurs an allen möglichen Orten mit Widerspruch und Widerstand zu begegnen und alternative Konzepte zukunftsträchtiger Friedenspolitik durchzusetzen, bleibt die Aufgabe und Herausforderung für die Friedensbewegung.
Martin Singe