Knapp 30 Personen machten sich am 1. Juni 2007 auf den Weg nach Heiligendamm. Dort beobachteten sie vom 2. bis 8. Juni, ausgewiesen vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, das demonstrative Geschehen rund um den G-8-Gipfel am 6. und 7. Juni. Der Bericht ihrer Beobachtungen liegt nun als buchdicke Broschüre im Eigenverlag des Komitees vor (Dez. 2007). Er ist für den Preis von 10 Euro zu erhalten. Er belegt detailliert, wie mehrere Zehntausende vor allem junger Menschen aus allen Teilen der Bundesrepublik, kräftig aus anderen Ländern ergänzt, phantasievoll und friedlich gegen die humanen und umweltgerichteten Kosten raubbauender Globalisierung für eine andere, menschen- und umweltgerechtere Welt demonstrierten.
Nicht als bloße Manifestation angemaßter globaler Macht von 8 Staaten durch ihre Spitzenvertreterin und -vertreter wird Heiligendamm Anfang Juni 2007 erinnert werden. Wie dort Zehntausende von BürgerInnen, in der Mehrzahl aus großen, geradezu mustergültig demokratisch organisierten Camps, 6 Tage lang friedlich demonstrierten, dass eine andere Welt möglich ist, wird vielmehr als demokratische Demonstration und als gemeinsames Lernen im Gedächtnis bleiben. Im Demonstrationsbuch zum G-8-Gipfel im Fünf-Sterne-Hotel Kempinski zu Heiligendamm finden sich folgende Beobachtungen, Bezüge, Argumente und Analysen:
1. Das Grundrecht auf Demonstration
Die Basis der Beobachtungen und Beurteilungen bildet das Grundrecht aller Bürgerinnen und Bürger, frei zu demonstrieren, wo immer sie dies von ihren Interessen motiviert wollen. Dieses Grundrecht, frei zu demonstrieren, ist ein zentraler Bestandteil repräsentativer Demokratie. BürgerInnen können weithin nur indirekt über gewählte VertreterInnen (= Repräsentanten) am politischen Geschehen mitwirken. Gerade darum stellt das Demonstrationsrecht eine fundamentale Bedingung der Demokratie dar. Hier können BürgerInnen ihre Meinung im Kollektiv öffentlich in ganzer Person ausdrücken. Exklusiv repräsentative Demokratie verkümmerte ohne die demonstrative Mund-zu-Mund-Beatmung durch unmittelbare Meinungsäußerungen der BürgerInnen. Darum legt das Komitee für Grundrechte und Demokratie so großen Wert darauf, das Recht zu demonstrieren, unverkürzt zu erhalten. Darum hat es seit 1981 zahlreiche Demonstrationen beobachtet und über sie berichtet. Um alle BürgerInnen darüber zu informieren. Um das Demonstrationsrecht weder durch einseitige Berichte von Seiten zuständiger politischer und eingesetzter polizeilicher Instanzen, noch durch solche von Seiten der Medien oder anderer an Demonstrationen Beteiligter trüben zu lassen.
2. Der angeblich gewaltdurchzogene Anfang am 2. Juni in Rostock
Das demonstrative Geschehen vom 2. bis 8. Juni wurde mit einer Riesendemonstration und Versammlung am 2. Juni im Rostocker Hafen eröffnet. 80.000 Menschen trafen sich dort, um die herrschende Form der Globalisierung zu kritisieren. Sie schafft weltweite Ungleichheiten unter den Menschen. Sie zerstört die Umweltbedingungen aller organischen und anorganischen Geschöpfe. Die Eröffnungsversammlung war noch nicht zu Ende, da hallte der Gewaltruf durch die Medien; wurden Bilder gewalttätiger Auseinandersetzungen übers Fernsehen in die Wohnzimmer geflimmert; wurde der Vorwurf gewalttätiger Teilnehmer an der Versammlung mündlich und zeitungsschriftlich verbreitet. Nicht wenige Vertreter selbst von den Gruppen, die die Versammlung organisiert hatten, sprachen sich gegen diejenigen pauschal aus, die Gewalt geübt hätten. Die Polizei meldete Hunderte teilweise schwer verletzter PolizeibeamtInnen. Teilnehmende an der Versammlung wurden als ertappte oder vermutete „Gewalttäter" festgenommen.
Die Polizeiführung, konzentriert in der Sonderbehörde Kavala, erklärte zugleich, sie habe durchgehend eine „Deeskalationsstrategie" verfolgt. Sie werde trotz der negativen Überraschung durch „Gewalttäter" daran festhalten. Um dem Versammlungsverlauf gerecht zu werden und beurteilen zu können, welche Behauptungen zutreffen, hat die BeobachterInnengruppe ein Doppeltes getan. Sie hat zuerst (a) die Vorgeschichte der Junitage zwischen Rostock und Heiligendamm untersucht. Sie hat (b) die Berichte, die die BeobachterInnen gegeben haben, als dichte Beschreibung des Geschehens am 2. Juni und der folgenden Tage bis zum 8. Juni komponiert.
a) Vorgeschichte. Die politisch polizeiliche Einstimmung des Junigeschehens geschah in zweifacher Weise. Auf der einen Seite wurde der G8-Gipfel als ein absolutes Gut vorausgesetzt. Das gelte es uneingeschränkt und kompromisslos gegenüber allen irgend erwartbaren Gefährdungen zu sichern. Die sichernde Prävention ging soweit, dass die „hohen Staatsgäste" nicht einmal von Ferne demonstrierende BürgerInnen mit dem Fernglas wahrnehmen können sollten. Denn, so die Ansicht der Sonderbehörde Kavala, einer der Staatsmänner, solcher Bürgeräußerungen ungewohnt, könnte davon irritiert werden. Auf der anderen Seite wurde prognostisch vermutet, geheimdienstlich verfassungsschützerische Berichte legten solche Prognosen nahe, die Demonstrierenden enthielten einen terroristischen, „islamistisch" geschnitzten Kern. Um diesen Kern lagerten noch vor dem Kranz friedlich Demonstrierender „gewaltbereite" Gruppen „autonom", „schwarzblockig". Also müsse die Polizei bereit sein, dass unter Umständen mit Sprengstoff u.ä. instrumentierte Gewalttaten gegen das Gruppenbild „Sieben Herren und eine Dame" begangen würden. Demgemäß wurde über zwei Jahre lang hoch gerüstet. Ein Draht- und Eisenzaun wurde unübersteigbar großzügig um Heiligendamm gezogen. Die Bundeswehr wurde um grundgesetzlich nicht gedeckte Amtshilfe ersucht. Sie stand bereit. Sie war mit Schnellbooten und Panzerspähwagen zu Wasser und zu Land präsent.
Nicht zuletzt dienten Tornadoflüge dazu, endlich nicht am Hindukusch, sondern in Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt, den „Feind", nämlich demonstrierende BürgerInnen, vorab ob möglicher Wühlmaustätigkeiten und Anfang Juni im demonstrierenden „Einsatz" auszuspähen. Statt Feind-, militärisch gewandte Bürger-„Aufklärung". Wer nennt die Polizeien, die sichernd im großen Kreis um Rostock, Heiligendamm und den Flughafen Laase mit Hubschraubern, Blaulichtwagen ohne Ende und schlagsicher verpackten Polizeien zusammenkamen?! Deeskalation? Kavala und die hinter ihr stehende Politik, repräsentiert durch die Innenminister Caffier (Mecklenburg-Vorpommern) und Schäuble vor allem, betrieben spekulationsgesicherte Eskalation pur.
b) Unser Beobachtungs-Bericht vom Samstag, den 2. Juni, und von den Tagen 3. bis 8. Juni weist nach, dass der mit Spekulationsluft gefüllte Ballon präventiver Sicherungen wie eine einzige Kette von Knallfröschen zerplatzte. Am 2. Juni gab es gewaltvermischte Handgemenge zwischen Demonstrierenden und Polizeigruppen. Es gab Steinwürfe. Es gab manche verletzte Polizeibeamte. Die eingesetzten, divers gefärbten, oftmals wie Bürger in Zivil gekleideten, also vielfach mehr oder minder bis zu ihren heruntergelassenen Helmblenden wahrhaft vermummten Polizeigruppen wurden jedoch von allem Versammlungsanfang an nicht so eingesetzt, dass alle wechselseitigen Aggressionen möglichst vermieden wurden. Die Polizeileute wurden vielmehr so unter die versammelten BürgerInnen eingestreut und griffen immer erneut einzelne Demonstrierende heraus, dass die Polizei nicht Gewalt vermied, sondern Gewalt sicherte. Das rechtfertigt keinen Steinwurf. Feststeht jedoch: dass die Polizeileitung Kavala, die schon im Mai durch eine hanebüchen begründete, also unfundierte Allgemeinverfügung alle Demonstrationen grundrechtswidrig untersagte, in jeder öffentlich allgemeineren Äußerung täuschte (zu ihren Gunsten nehmen wir an, sich auch selbst täuschte.
Nur, wozu brauchen wir Sicherheitsorgane, die zu Ungunsten der BürgerInnen, aber zugunsten ihrer eigenen Bedeutung jedes Augenmaß und jede „Intelligence" vermissen lassen?!). Die Täuschung reicht skandalös bis zur Angabe der Zahl verletzter PolizeibeamtInnen und der Schwere von deren Verletzungen. Von Sonntag, den 3. Juni, bis Freitag, den 8. Juni, glänzten die Demonstrationen als Demonstrationen gegen die schlimmen Folgen kapitalistisch einseitiger Globalisierung. Sie glänzten zugleich als praktizierte Friedensbewegung. Aggressive Akte, durchgehend am Rande, sind fast nur der falsch und übermäßig eingesetzten Polizei zuzuschreiben.
3. Eine mehrfache „Moral" ist aus der demonstrationenumkränzten Heiligendammgeschichte zu ziehen.
Unterstellt, man will lernen und nicht wie die „verantwortlichen" Politiker und leitenden Polizeibeamten obstinat mit eingewachsenen Scheuklappen auf seinem selbstverschuldeten, sicherheitswahngleichen Irrtum beharren. IM Caffier verdiente ohnehin den Preis nachgewiesener Lernunfähigkeit, den er mit seinem Bundeskollegen leider teilen muss. - So schlimm das ist: offiziellen Behauptungen über (terroristische) Gefährdungen ist nicht zu trauen. Sie sind im fernsten demokratisch nur, wenn sie zureichend belegt werden. - Polizeiliche Eingriffe zusammen mit einem quantitativen und qualitativen „Overkill" an gewalttätig einsetzbarem Personal und gewaltsam benutzbaren Mitteln sind durch nicht überprüfbare Sicherheits- und Risikospekulationen nicht zu legitimieren.
- Die immer stärkere informationelle Zersetzung bürgerlicher Integrität (Art. 2 GG; s. auch die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einschließlich des „Volkszählungsurteils") durch die schier unbegrenzte Datengier der dazu gesetzlich ermächtigten Sicherheitsbehörden führt nicht zu einem Mehr an bürgerlicher Sicherheit. Auch nicht solcher eines demokratisch grundrechtlich verfassten Staates. Sie hat vielmehr ein qualitatives Weniger bürgerlicher Sicherheit und grundgesetzlich verfasster Demokratie zur Folge. Sähen wenigstens die Abgeordneten der Landtage und des Bundestages vor allem solche Zusammenhänge endlich ein! Heiligendamm kann als anderes Menetekel gelesen werden. - Der Sicherungsaufwand der staatlichen Instanzen vor und rund um Heiligendamm war nicht nur umgekehrt proportional der Gefährdung durch die eigenen BürgerInnen oder globalisierungskritische BürgerInnen aus dem Ausland. Der Sicherungsaufwand stand in keinem Verhältnis zur nachdemokratischen, globalisierungsautoritären Struktur des G8-Gipfels und seiner bestenfalls machtsymbolischen, ansonsten aber erwartbar ergebnislosen Zirkusfunktion ohne artistischen Spaß.
- Angesichts der Eigenart solcher politisch substantiell talschluchttiefen Gipfel sind globalisierungskritische BürgerInnen demokratischen Elans gehalten, mehrfach nachzudenken: zum einen, ob es sich lohne, Großdemonstrationen um einen Hochsicherheitstrakt selbst gefangener Spitzenpolitiker zu arrangieren; zum anderen, ob es nicht vorzuziehen sei, mithilfe rundum einschlägiger Themen für lokal, regional, national und dadurch vermittelt global demokratiegemäßere Prozeduren und Entscheidungsmechanismen zu demonstrieren; zum dritten, ob es nicht wichtiger sei – das ist zum Teil in Rostock geschehen, jedoch zu punktuell geblieben -, ungleich mehr als globalisierungskritisch groß zu demonstrieren, während die Adressaten polizeiabgeschottet fliehen, eigene (alternative) Konzepte und ihre Umsetzung voranzutreiben.
4. Der G8-Gipel zu Heiligendamm – ein Fiasko
Die Demonstrationen waren, soweit nicht grundrechtswidrig weithin verboten, eine leicht eingeschränkte demokratische Freude. Eingeschränkt war sie zum einen durch einige, demonstrierend am 2. 6. selbst-, jedenfalls mitverschuldete „Dellen". Eingeschränkt war sie vor allem, weil sich die Dame im Herrenkränzchen im Sicherheitstrakt Kempinski zu Heiligendamm wegstahl (und ohnehin mit ihren Herren zu allen drängenden Fragen der Zeit, sie allenfalls erschwerend, nichts zu sagen hatte/hat). Darüber und anderes mehr handelt der Komiteebericht ausführlich und begründet: „Gewaltbereite Politik und der G-8-Gipfel"
(Hg: Komitee für Grundrechte und Demokratie, ISBN 978-3-88906-125-6, 192 Seiten, 10,- Euro) Wolf-Dieter Narr