05. Jan. 2018
Europa / Flucht / Praxis & Aktion / Prozessbeobachtung / Rechtsstaatlichkeit / Strafrecht

Pressemitteilung: Gemeinsame Beobachtung des Prozesses gegen den Geflüchteten Ahmed H. im ungarischen Szeged

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie und die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) beobachten den Revisionsprozess gegen den Geflüchteten Ahmed H. im ungarischen Szeged, der am 8., 10. und 12. Januar 2018 fortgesetzt wird. Im November 2016 wurde der Syrer Ahmed H. als »Terrorist« in Ungarn zu zehn Jahren Haft verurteilt. Am 16. September 2015 waren er und zehn weitere Geflüchtete am Grenzübergang Röszke festgenommen worden. Anlass war die Schließung des Grenzübergangs nach Serbien am Tag zuvor: Ein über Nacht inkraft getretenes Gesetz kriminalisierte nun »illegale Einwanderung« als Straftat und sanktioniert sie mit bis zu drei Jahren Haft. Das Tor des Grenzübergangs wurde verbarrikadiert, ein Stacheldrahtzaun sichert seitdem den Grenzverlauf. Bis dahin hatten täglich Tausende die Grenze von Serbien nach Ungarn in Richtung Österreich, Deutschland oder weiter nach Norden passiert.

Der Prozess gegen Ahmed H. dient dem ungarischen Premierminister Viktor Orbàn als Exempel für seine rassistische Flüchtlingspolitik. Das Verfahren ist aber zugleich ein Baustein im System der Flüchtlingsabwehr der Europäischen Union. Die Situation in Ungarn für Geflüchtete ist von Elend, Willkür und Gewalt geprägt. Seit Juli 2016 erlaubt ein Gesetz, Menschen, die innerhalb der 8 km breiten Grenzzone aufgegriffen werden, umgehend auf serbisches Gebiet zurück zu schieben, ohne ihnen überhaupt Gelegenheit für einen Asylantrag zu geben – ein juristischer Trick, um nach geltendem Recht eigentlich illegale Push-Backs trotzdem durchführen zu können. NGOs und Medien berichten außerdem von Misshandlungen und Schlägen durch »Border Hunters« – so der offizielle Name der ungarischen Grenzpolizei – und durch privat organisierte, faschistische Schlägertrupps. Zwei sogenannte Transitzonen bieten den einzigen Weg einer legalen Einreise, Geflüchtete werden dort seit März 2017 für die Dauer des gesamten Asylverfahrens in geschlossenen Lagern interniert. Dies alles geschieht mit Kenntnis und Wissen der maßgeblichen EU-Institutionen. Von der EU werden zusätzlich Frontex-Beamte für die Grenzsicherung abgestellt.

Seit über zwei Jahren sitzt Ahmed H. im Gefängnis in Budapest. Bis zum Sommer 2015 führte er mit seiner Familie ein ruhiges Leben auf Zypern. Doch als seine Verwandtschaft in Syrien als letzten Ausweg aus dem Bürgerkrieg die Flucht ergriff, begleitete er sie von der Türkei im Schlauchboot nach Griechenland. Der Weg über die Balkanroute bis nach Deutschland schien einfach. Doch es kam anders: Am Grenzübergang Röszke hatte die unerwartete Schließung am 16. September 2015 bei den Ankommenden Wut und Unsicherheit ausgelöst. Dann gelang es schließlich, das Tor doch wieder zu öffnen. Erleichtert strömten die Menschen hindurch, der ungarische Grenzschutz war zurückgewichen. Plötzlich griffen völlig überraschend die ungarische Bereitschaftspolizei und die Terrorabwehr an, mit Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln. Die Situation eskalierte. Die Menschen drängten zurück, einige reagierten mit Steinwürfen. Kurz darauf fanden Ahmed H., seine Eltern sowie acht weitere Geflüchtete sich im Gefängnis wieder.

Ahmed H. wird vorgeworfen, die Unruhen angeführt und mit einem Megaphon die ungarischen Polizeikräfte zum Öffnen der Grenze aufgefordert zu haben. Nach ungarischem Recht kann dies als „terroristischer Akt“ ausgelegt werden. Im ersten Prozess wurden knapp 100 Polizeizeug*innen gehört. Ein Ahmed H. angeblich belastendes Polizeivideo spielte man ohne Ton ab: Es zeigt ihn mit einem Megaphon, aber was er ruft, ist nicht zu hören. Mehrere Journalist*innen, die am 16. September 2015 an der Grenze zugegen waren, könnten bezeugen, dass er zwischen der Menge und den Polizisten zu vermitteln versuchte. Doch das Gericht ließ diese Zeug*innen nicht zu. Im aktuellen Prozess sollen die vorliegenden Beweismittel nun erneut geprüft werden. Die inflationäre Verwendung des Terrorismusbegriffs ist allerdings nicht Gegenstand des Verfahrens.

Die Politik der ungarischen Regierung wird innerhalb der politischen Klasse der EU zwar gern als „Schandfleck der Demokratie“ tituliert, doch kann diese billig distanzierende Kritik nur als zynisch bezeichnet werden: Denn der liebste Flüchtling ist für Europa derjenige, der gar nicht erst herkommt – zur Durchsetzung ihrer Maxime ist die EU äußerst kreativ: Rücknahme-Abkommen mit „sicheren Drittstaaten“, Abschiebungen in Kriegsgebiete, Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken lassen, Deals mit der Türkei und Libyen – alles ist dienlich, um die „Festung Europa“ durchzusetzen. Auch Deutschland profitiert vom harten Kurs der ungarischen Regierung – denn bei einem möglichen Scheitern des Türkei-Deals würde Ungarn zumindest sicherstellen, dass die Balkanroute geschlossen bliebe.

Die juristische Verzahnung von "Terrorismus" und Migration ist längst keine ungarische Spezialität, sondern gehört bei Gesetzesverschärfungen im Namen der "Inneren Sicherheit" europaweit zum Standardprogramm. Der Prozess gegen Ahmed H. im ungarischen Röszke findet damit zwar am Rande Europas statt, das Verfahren aber trägt die gesamteuropäische Handschrift der Flüchtlingsabwehr und hat damit zentrale Bedeutung in der Flüchtlingspolitik der ganzen EU.

Britta Rabe und Annina Mullis (Prozessbeobachterinnen)