Am 18. Oktober gedachten wir in Köln mit einer Kundgebung der Toten in Haft. Wir schlossen uns damit der jährlichen Gedenkveranstaltung in Berlin an, die das Knastschadenkollektiv seit 9 Jahren abhält. Erst einen Tag zuvor war der Selbstmord eines 51-Jährigen in der JVA Bielefeld-Brackwede b ekannt geworden.
Todesfälle in Haft sind allerdings nicht selten, sondern leider trauriger Alltag. Zwischen 1998 und 2017 starben mehr als 3.000 Menschen in deutschen Ge fängnissen. Bei knapp der Hälfte der Fälle heißt die Todesursache offiziell Suizid, und besonders gefährdet sind Menschen zu Beginn ihrer Haft und in Untersuchungshaft. Nicht in der Statistik enthalten sind die selbstgewählten Tode, die nach der Entlassung in die Freiheit geschehen.
In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Menschen in Haft, die sich das Leben genommen haben, zugenommen: Wurden 2019 noch 42 Suizide in Gefängnissen in Deutschland gezählt, waren es 2021 mit 92 mehr als doppelt so viele. Auch die Zahl der gesamten Todesfälle stieg von 144 auf 182.
Haft umfasst alle Formen des Wegsper rens und Freiheitsentzugs: Nicht nurdas Gefängnis und die Untersuchungshaft, den sogenannten „Maßregelvollzug“ und die Sicherheitsverwahrung, sondern auch Abschiebehaft sowie den Polizeigewahrsam.
Zwei Tage vor unserer Kundgebung, am 16. Oktober, stürzte sich ein Mann aus dem Fenster des 5. Stockes in Hainichen bei Chemnitz und starb bei dem Versuch, der Polizei zu entkommen. Sie wollte ihn holen, um ihn abzuschieben.
Zwischen 1993 bis 2022 töteten sich allein in Deutschland 443 Personen angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, der Abschiebung zu entkommen, 88 Menschen davon befanden sich in Abschiebehaft. Weitere 5.520 Menschen verletzten sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest dagegen (etwa durch Hunger- und Durststreiks) oder versuchten, sich umzubringen, davon befanden sich knapp eintausend Menschen in Abschiebehaft.
Das Gefängnis und alle Arten von Freiheitsentzug sind menschen- und lebensfeindliche Institutionen, die deren Insassen schwere und schwerste seelische und körperliche Schäden zufügen.
Unter den Briefen von Strafgefangenen, die uns als Grundrechtekomitee in den letzten Jahrzehnten aus Gefängnissen erreichten, finden sich zahlreiche Berichte über Menschen in akuter Verzweiflung – aufgrund der Beschränkung oder Unterbindung jeglicher Kommunikation nach außen, in deren Folge Freundschaften und Beziehungen zerbrechen und die Menschen isoliert in Haft zurück lässt, – aufgrund der Angst vor oder der Betroffenheit von physischer oder psychischer Gewalt durch Mitgefangene oder Bedienstete, – aufgrund einer drohenden Abschiebung aus dem Strafvollzug, teils in vermeintliche „Herkunftsländer“, in denen die Betroffenen nie oder falls, dann vor vielen Jahren gelebt haben – und oft auch aufgrund der unzureichen den Gesundheitsversorgung, nicht behandelter chronischer Schmerzen oder des Zwangs, ungewollte Medikamente nehmen zu müssen.
Gefangene können allerdings kaum offen über schwere Gedanken bis hin zur Selbsttötung sprechen, denn dann kämen „besondere Sicherungsmaßnahmen“ zur Anwendung: Statt wirklicher Hilfsangebote droht Einzelhaft, ein 23-stündiger Sicherheitseinschluss in einem gesondert gesicherten, kargen Haftraum, dem „Bunker“, meist mit Kameraüberwachung und teilweise mit körperlicher Fixierung.
Während die Einzelhaft als Sanktionsmaßnahme auf vier Wochen zeitlich beschränkt ist, kann diese sogenannte „ besondere Sicherungsmaßnahme“ unbefristet eingesetzt werden – so lange, bis Anstalts psycholog*innen oder Ärzte zum Schluss kommen, dass keine S elbstverletzungs- oder Selbsttötungsabsicht mehr besteht. In Extremfällen können sich besondere Sicherungsmaßnahmen über Jahre oder Jahrzehnte erstrecken.
Es gibt keine freie Ärzt*innen- oder Therapeut*innenwahl, diese Berufsgruppen unterliegen zudem nicht der Schweigepflicht. Haft als solche schädigt, und kann, wie hier beschrieben, tödliche Folgen haben. Denn hinter Gittern gibt es kein menschenwürdiges Leben und auch kein menschenwürdiges Sterben.
Wir treten ein für die Abschaffung des Knastsystems und für die Überwindung unserer Gefängnisgesellschaft in all ihren Ausprägungen.