Erste Erklärung aus bürgerrechtlicher Sicht zum BverfG-Urteil vom 9.2.2010 in Sachen Regelleistungen nach dem Hartz IV-Gesetz
Der Streit um eine grundrechtliche, demokratisch und soziale Grundsicherung aller Menschen, die in der Bundesrepublik leben, geht weiter.
I. Unserer ersten Beurteilung des Urteils des BVerG vom 9.2.2010 liegt die Pressemitteilung des BVerG Nr. 5/2010 vom 9.2.2010 zugrunde (Urteil vom 9.2. 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09).
II. Der im Vergleich zum BVerfG in diesem Fall erweiterte Bezug unserer Evaluation besteht im Grundrechtekatalog insgesamt und in Art. 20 Abs. 1 GG in einer doppelten Profilierung. "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Dieser zusätzliche Akzent hat zur Folge, dass wir Art. 1 Abs. 1 GG mit dem Bundesverfassungsgericht gleich hoch halten. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass die in Art. 1 Abs. 1 GG für "unantastbar" normierte "Würde des Menschen" nur als Aktivrecht aller Bürger verstanden werden kann. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger müssen an ihrem - auch sozial gewährleisteten Schicksal - aktiv mitwirken und mitbestimmen können. Es reicht also nicht aus, die Norm "Würde des Menschen", wie es das BVerG auch in diesem Urteil tut "absolut" zu setzen, ihre Definition und Umsetzung im sozialrechtlich einzelnen (SGB II) aber dem Gesetzgeber und der Sozialbürokratie zu überlassen. Ob die Regelleistungen so ausfallen, dass bedürftige Frauen, Männer und Kinder damit lebenswürdig auskommen können, ist mitentscheidend. Ausschlaggebend für die "Würde" der mit Mitteln zureichend ausgestatteten Menschen aber ist, ob sie allgemein und als Personen speziell bei der Festsetzung der Mittel, beim "Fördern und Fordern" transparent mitbestimmen.
III. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat einige markante und als solche unerträgliche Mängel des Gesetzgebers von Hartz IV und der Vergabeprozeduren der Arbeitsagenturen moniert. Die schon vor der Verabschiedung geübte Kritik an Hartz IV und die Tausenden von Klagen wurden im Kern bestätigt. Pauschale und nötigen regelmäßigen Sonderbedürfnissen nicht genügende, beliebige Berechnungen werden angeprangert - nicht zuletzt für Kinder und Lebenspartner. Die verantwortlichen Bundesregierungen und die Parteien, die im Bundestag Gesetzespfusch betrieben, können in diesem seriösen verfassungsgerichtlichen Spiegel ihre sozial ungerecht verzerrten Züge wiedererkennen. Die PR-Schau ist in diesem Fall zu Ende. In diesem Sinne ist das pflichtige Veränderungsverlangen an den Gesetzgeber zu begrüßen - ein Gesetzgeber, der die gegebenen Chancenungleichheiten sozialgesetzlich faktisch antisozial verstärkte.
IV. So eindeutig und folgerichtig jedoch das BVerfG in dieser Hinsicht urteilt und Konsequenzen verlangt, so unzureichend bleibt es in seinen statischen, selbst nicht vermittelten Standards. Auf der einen Seite der "absolut wirkende Anspruch aus Art. 1 GG auf "Achtung der Würde jedes Einzelnen". Auf der anderen Seite die normfreie "Konkretisierung und stetige Aktualisierung" durch den Gesetzgeber. Diesem werden zwar "transparente", "nachvollziehbare" "Methoden und Berechnungsschritte" abverlangt, die "existenznotwendigen Aufwendungen" der strukturell und funktionell arm belassenen Menschen festzulegen. Das kann und soll jedoch wie seither aufgrund entsprechender "Statistikmodelle" (!) geschehen. Von deren Durchschnittshöhen kann weiter mit ‚angewandten Abstraktionen' hantiert, unbefragt "gefordert" und bürokratisch gewillkürt und "gefördert" werden.
V. Glücklicherweise urteilt das Bundesverfassungsgericht nicht so abgehoben von den Lebensbedingungen der Menschen wie offenkundig der Gesetzgeber. Der ‚repräsentiert' die "unteren 20 Prozent" noch nur disziplinierend. Große Erleichterung darob. Dass es noch Richter gibt. Die demokratische Grundlage des lückenreichen Sozialstaats gilt es jedoch über das Gericht hinaus gründlich nachzubessern. Ob die ohnehin geforderten "Volks"vertreter sich ihrer Verfassungspflicht erinnern, wenn sie das Gesetz ohnehin gründlich erneuern müssen? Nun mögen die Abgeordneten beweisen, dass sie Art. 20 Abs. 1 GG verstehen (und wie)!