Heute bedrohen uns zwar nicht mehr wie in den 1980er Jahren etwa 70.000 Atomwaffen, sondern „nur“ noch etwa 15.000, die aber nach wie vor das Mehrfache der Sprengkraft besitzen, um die ganze Welt zu zerstören. Mehr als 2.000 Ziele auf der Welt stehen unter der höchsten Alarmstufe, um innerhalb von Minuten völlig ausgelöscht zu werden. Atomwaffen sind trotz Atomwaffensperrvertrag (NPT), trotz des Wissens um deren Kurz- und Langzeitfolgen, trotz der Auflösung der Blöcke weiterhin eine der größten Bedrohungen der Menschheit geblieben. Zwar empfindet nur noch eine Minderheit, auch innerhalb des Grundrechtekomitees, eine existentielle Bedrohung durch Atomwaffen, auch wenn durch die Ukraine-Krise scheinbar das Blockdenken sich reibungslos wiederaufbauen lässt. In den letzten Jahren entstand eine erfolgreiche und schlagkräftige internationale ICAN-Kampagne, es gibt international agierende Organisationen wie Mayors für Peace, IPPNW oder der Zusammenschluss von Staaten, um Atomwaffen zu ächten. Bisher ist jedoch kein Atomwaffenstaat auch nur bereit, von seinem vermeintlichen atomaren Überlegenheitsdenken abzurücken. Besitzer und Teilhaber von Atomwaffen haben immer noch das Bewusstsein, überlegen und unverwundbar zu sein, obwohl das Gegenteil längst nachgewiesen ist.
In Deutschland lagern noch 20 atomare Sprengköpfe in Büchel (Eifel), eigentlich eine lächerliche Zahl im Vergleich zum weltweiten Bedrohungspotential. Verbissen hält aber jede Bundesregierung trotz gegenteiligen Parlamentsbeschluss vom 26.3.2010 an deren Existenz und deren „Modernisierung“ fest, um nicht die nukleare Teilhabe zu verlieren. Dafür üben sogar weiterhin deutsche Piloten in ihren deutschen Tornados den eigentlich undenkbaren Ernstfall. Die NATO hat beschlossen, neue, zielgenauere und flexibler einsetzbare Waffen mit atomaren Sprengköpfen zu entwickeln und zu stationieren, anstatt ihr vertraglich gegebenes Versprechen gegenüber den Nicht-Atomwaffenstaaten einzulösen, die atomaren Waffen vollständig abzubauen. Damit läutet sie eine neue Runde der atomaren Aufrüstung ein. Die Bundesregierung unterstützt aktiv trotz verbaler Gegenaussagen diese Politik und damit die atomare Versklavung der gesamten Menschheit. Von der kommenden Regierung können wir keine neuen Initiativen, geschweige denn eine Kehrtwendung erwarten. Das haben das jüngste Abstimmungsverhalten der Bundesregierung in der Generalversammlung der UNO oder die enttäuschende Erklärung zur atomaren Rüstung der G7-Außenminister kürzlich in Hiroshima wieder gezeigt.
Atomare Abrüstung muss von unten erstritten werden
Aufklärung, Appelle, öffentlichkeitswirksame Darstellungen und Aktionen, internationale Konferenzen, internationale Ächtung und Bemühungen um die Belebung des NPT-Vertrages sind weiterhin sicherlich wichtige Aktivitäten. Was es hingegen braucht, ist die Delegitimierung einer Politik, die letztlich die Zerstörung der Menschheit auf Knopfdruck in Kauf nimmt und bisher schon viele Millionen Opfer auf der Welt gekostet hat.
Die Kampagne: „Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“ in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat einer breiteren Gruppe in unserer Gesellschaft den Mut zurückgegeben, ein bedingungsloses „Nein“ ohne ein „Aber“ zu den Atomwaffen einzufordern und so den gesellschaftlichen Konflikt um die gefährliche Atomwaffenpolitik ein Stück weit zuzuspitzen. Das hat die Widerstandskultur gegen eine illegitime Politik gestärkt, hat Erfahrungsprozesse der Selbstermächtigung von unten gefördert und so für viele andere soziale Bewegungen Beispiel gegeben und deren Boden bereitet.
Wozu ziviler Ungehorsam?
Ziviler Ungehorsam stellt eine bewusste gewaltfreie Regelverletzung dar, die sich damit legitimieren lässt, dass mit ihr wider ein bestehendes größeres Unrecht in ihrer Alltagsfunktion gestritten oder eine unheilvolle Katastrophe abzuwenden versucht wird. Die bestehende atomare Bedrohung stellt ein solches Unrecht dar. Nicht zuletzt hat der Internationale Strafgerichtshof in seinem Gutachten von 1996 dieses Unrecht aus völkerrechtlicher Sicht bestätigt und an die vertragliche Verpflichtung der Atomwaffenstaaten, ihr Atomwaffenpotential restlos aufzulösen, erinnert. Seitdem ist nichts geschehen. Im Gegenteil, wir stehen weltweit vor einer erneut gefährlichen atomaren Aufrüstungsspirale, die ungeheure menschliche Ressourcen verschlingt, die eigentlich für die Lösung wichtiger Zukunftsaufgaben gebraucht werden.
Die Bundesregierung verhält sich nicht anders, sondern agiert in der praktischen Politik wie ein Atomwaffenstaat. Sie verschwendet Steuergelder, um diese gefährliche atomare Aufrüstungsspirale im Rahmen der NATO noch abzusichern. Geschickt verschweigt sie dieses Thema nach außen, weiß sie doch genau, dass sie mit dieser Politik ihre eigene Bevölkerung nicht hinter sich hat und, sollte es zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über dieses Thema kommen, einen erneuten gesellschaftlichen Konflikt provozieren würde. Trotz massiver und konzentrierter Anstrengungen ist es den bundesweiten Kampagnen zur Abschaffung der Atomwaffen bisher nicht gelungen, dieses Thema wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen. Deshalb muss mehr gesellschaftlicher Druck von unten aufgebaut werden.
Ziviler Ungehorsam braucht einen sichtbaren symbolischen Ort. In Deutschland bietet sich natürlich Büchel in der Eifel an. Leider ist diese etwas abgelegene Region wie an vielen Plätzen der Welt zugleich wirtschaftlich und sozial von der dortigen militärischen Infrastruktur abhängig. Geschickt haben Politiker und Militärs die Lagerung von Atomwaffen mit der Existenz von über 2.000 Arbeitsplätzen in dieser strukturarmen Region verbunden. Menschen in dieser Region, die sich seit Jahren gegen die Existenz der Atomwaffen wenden und öffentlich protestieren, werden somit isoliert und bedürfen einer Ermutigung von außen für ihre Haltung. Ziviler Ungehorsam kann so die Diskussion um die Existenz der Atomwaffen in dieser abgelegenen Eifelregion beleben und von der stillen Abwehr zur öffentlichen Diskussion führen.
Ziviler Ungehorsam braucht allerdings Menschen, die den Mut und die Überzeugung aufbringen, diesen zu praktizieren, und die sich öffentlich dazu zu bekennen. Sie sollten bereit sein, zumindest das Risiko eines persönlichen Nachteils auf sich zu nehmen, um einem großen fortgesetzten Unrecht zu widerstehen, welches in der atomaren Bedrohung über die Menschheit liegt. Bisher ist noch niemand in Deutschland durch praktizierten zivilen Ungehorsam in seiner Existenz zerstört worden. Im Gegenteil, durch solche gemeinsamen Erfahrungen gewinnt man ganz andere, neue Perspektiven für seinen Alltag.
Praktizierter ziviler Ungehorsam ist dazu ein wichtiger Lernschritt. Er ermächtigt uns selbst, politisch wieder handlungsfähig zu werden, aktiv mitzuentscheiden, in welche Richtung sich ein Gemeinwesen in Fragen der nuklearen Teilhabe bewegt. Er signalisiert den „politisch Verantwortlichen“, dass man ihnen mit der Regelverletzung die Legitimität ihres politischen Handelns entzieht und ihnen die Zusammenarbeit aufkündigt, indem das reibungslose Funktionieren dieser Bedrohungsmaschine zu stören versucht wird. Als Bürgerinnen und Bürger können wir so andere Menschen, die angesichts dieses großen Unrechts bereits resigniert haben, einen beispielhaften Weg aus ihrer Hoffnungslosigkeit zeigen und ihnen Mut machen, wieder aktiv zu werden und Schritte zur Selbstermächtigung zu gehen. Zivil ungehorsamer Protest zerstört nicht, sondern festigt geradezu unser demokratisches Gemeinwesen.
Indem wir solche Aktionen an diesem besonderen symbolischen Ort, an denen wir uns beteiligt haben, wieder in unsere persönliche Lebensumgebung zurücktragen, davon berichten, Bilder zeigen, die lokale Presse informieren, sickert dieses Thema wieder stärker in die Gesellschaft ein. Dadurch bilden wir jenen Humus, der eine neue Widerstandskultur wachsen lässt. Die Selbstverpflichtungs- und Solidaritätserklärung sind dafür weitere gute Werkzeuge. Die persönliche engagierte Haltung steckt andere an. Als Ältere haben wir hier eine ganz besondere Verantwortung und Aufgabe. Ich jedenfalls wurde durch die alten Leute der Seniorenblockade in Mutlangen dazu gebracht, mich an solchen Aktionen zu beteiligen und auch aktiv zu organisieren. Wer letztes Jahr an den Büchel-Aktionen teilgenommen hat, wird das bestätigen können.
Aktiv werden
Die kommenden Jahre bieten Gelegenheit, neue Erfahrungen im zivilen Ungehorsam vor Ort in Büchel zu sammeln. Unsere Aktionen sind so angelegt, dass auch Personen sich aktiv beteiligen können, die für sich eine legitime Regelverletzung noch nicht in Betracht ziehen.
Ernst-Ludwig Iskenius
Melden Sie sich, wenn Sie an Aktionen gleich welcher Art teilnehmen wollen, in der Geschäftsstelle des Grundrechtekomitees.