Nach dem Brand in Moria 2020 geht der Justizskandal weiter – Forderung nach fairem und transparentem Gerichtsverfahren am 4. März 2024 in Lesbos. Vier Jugendliche sind trotz eindeutiger Beweise für ihre Unschuld seit 3,5 Jahren in Haft. Sie werden zu Sündenböcken einer gescheiterten europäischen Migrationspolitik gemacht.
Am 4. März 2024 findet die ursprünglich für den 6. März 2023 angesetzte Berufungsverhandlung vor dem Berufungsgericht in Mytilini (Lesbos) gegen vier der sechs Jugendlichen statt, die für die Brände, die am 8./9.Sepember 2020 das berüchtigte Camp Moria zerstörten, verurteilt wurden.
Nun endlich nach einem Jahr Verschiebung können die entscheidenden neuen Beweise vorgelegt werden, die zeigen, dass die Aussage des Kronzeugen der Anklage völlig falsch ist.
Im Zusammenhang mit dem Berufungsprozess wurden Forensic Architecture (FA) / Forensis von den Anwält*innen beauftragt, den Brand von Moria zu rekonstruieren und mit den Aussagen des Kronzeugen abzugleichen.
Zum Ergebnis der Modellierung erklärte Dimitra Andritsou, Koordinatorin des FA/Forensis-Teams : “Die von uns durchgeführte Analyse […] beweist, dass die jungen Asylbewerber, die der Brandstiftung beschuldigt wurden, auf der Grundlage schwacher und widersprüchlicher Beweise verhaftet wurden, was darauf hindeutet, dass […] die griechische Regierung einen Sündenbock für eine Katastrophe brauchte, die vorprogrammiert war”.
Nur wenige Tage nach den Bränden im September 2020 hatte die Polizei sechs Jugendliche verhaftet (“Moria 6”) und der Brandstiftung beschuldigt. Ab dem Moment ihrer Verhaftung, wurden sie in der Öffentlichkeit bereits als Schuldige präsentiert.
Die “Moria 6” wurden in zwei getrennten Prozessen verurteilt, die als „Parodie der Justiz“ bezeichnet werden müssen. Obwohl gültige Dokumente vorlagen, wurden nur zwei der sechs Verhafteten als Minderjährige anerkannt. Die Verschiebung des Berufungsverfahrens um ein Jahr bedeutet neben den zusätzlichen Qualen für die Angeklagten auch, dass mittlerweile neu vorliegende Beweise dafür dass drei der vier Jugendlichen bei ihrer Verhaftung minderjährig waren, erst jetzt geprüft werden können.
Die Angeklagten, die als Erwachsene bezeichnet wurden, wurden im Juni 2021 in erster Instanz wegen Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben zu 10 Jahren Haft verurteilt. Das Gericht weigerte sich, mildernde Umstände zu berücksichtigen. “Sie haben uns überhaupt nicht zugehört”, sagte eine Anwältin der Verteidigung, als sie den Gerichtssaal verließ, “dieses Urteil stand bereits fest, als die Angeklagten Mitte September 2020 verhaftet wurden”. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung legte die Verteidigung Berufung ein.
Nach dem Urteil am 11. Juni 2021 kritisierten internationale Prozessbeobachter*innen den Mangel an Beweisen. Sie kamen in ihrem umfassenden Bericht zu dem Schluss, dass das Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren mehrfach verletzt wurde. Auch die lautstarke Forderung nach einem transparenten Prozess, gestellt von über 70 europäischen Organisationen und hunderten von Einzelpersonen, wurde nicht erfüllt.
Wesentlichen Prozessdokumente wurden für die Angeklagten nicht übersetzt, so dass sie die gegen sie erhobenen Vorwürfe nicht verstehen konnten. Allein deswegen gilt der Prozess eigentlich formal als formal ungültig. Das hinderte die Richter:innen nicht daran, die vier Angelklagten trotz fehlender Beweise für die Beteiligung an den Bränden nach einem zweitägigen Prozess schuldig zu sprechen.
Das Gericht stützte die Verurteilung einzig auf die schriftliche Aussage eines angeblich nicht mehr auffindbaren Zeugen stützt. Seine Aussage ist jedoch voller Widersprüche ist, von Forensic Architecture und Forensis nun veranschaulich konnte. Als Schuldige nannte der Zeuge zudem nur häufige Vornamen von Personen aus dem Lager.
Auf dieser Grundlage nahm die Polizei dann sechs Jugendliche fest. Der Zeuge war bei keiner der bisherigen Gerichtsverhandlung anwesend. Es lässt sich mutmaßen, dass dem Gericht die fingierte Aussage des einzigen Zeugen durchaus bewusst ist, aber die Verurteilung der Jugendlichen in diesem politischen Schauprozess nicht gefährdet werden sollte.
Die Befürchtung einer Vorverurteilung bestätigte sich bereits, als die beiden offiziell als minderjährig anerkannten Jugendlichen der Moria 6 im März 2021 vom Jugendgericht Lesbos zu fünf Jahren Haft verurteilt wurden und das Urteil im Juni 2022 vom Jugendberufungsgericht bestätigt wurde.
Lediglich das Strafmaß konnte wegen “guter Führung im Gefängnis” von fünf auf vier Jahre reduziert werden. Die Anwält*innen vom Legal Centre Lesvos stellten daraufhin einen Antrag auf Annullierung des unfairen Urteils. Dieser wurde vor dem obersten Gerichtshof abgelehnt.
Der Antrag wird nun an den Europäischen Gerichtshof weitergeleitet. Mittlerweile wurde eine der Jugendlichen wegen guter Führung auf Bewährung freigelassen, der zweite wurde vom Gefängnis direkt in Abschiebehaft genommen.
Die Verurteilung der insgesamt sechs Jugendlichen ist ein weiteres schockierendes Beispiel für die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht. Damit soll auch von dem Verbrechen der EU und Griechenland abgelenkt werden, menschenunwürdige Camps wie das Camp Moria zu bauen, illegale Push-Backs durchzuführen, Schutzsuchende durch Rechtsreformen wie das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS) systematisch zu entrechten und weitere Lager nach dem Vorbild von Moria an den EU-Außengrenzen zu errichten.
Wir fordern die EU und den griechischen Staat auf, Verantwortung für die menschenunwürdigen Lager und das daraus resultierende menschliche Leid zu übernehmen!
Wir stehen in Solidarität mit den Moria 6 und gegen das tödliche europäische Grenzregime!
Weitere Informationen und Kontakte:
Informationen zum rechtlichen Kontext sind beim Legal Centre Lesvos zu finden
Blog: https://freethemoria6.noblogs.org/