Sehr geehrte Oberbürgermeisterin Reker, sehr geehrtes Team der Stadtverwaltung,
am 9. Juni 2024 jährte sich der rassistische rechtsterroristische Nagelbombenanschlag des NSU auf der Keupstraße zum 20. Mal, bei dem viele Menschen schwere Verletzungen und Traumata erlitten, die teilweise bis heute andauern. Anlässlich dieses 20. Jahrestages wurde das Fest Birlikte auf der Keupstraße abgehalten, das Räume der Erinnerung, des Austauschs und des Beisammenseins schaffen sollte.
Eine wichtige Lehre aus der rassistischen Mordserie des NSU war, dass Polizei, Politik und Medien über viele Jahre ein rassistisches Motiv für die Morde ausschlossen und die Mörder statt dessen innerhalb der Betroffenen, Angehörigen und ihrem Umfeld suchten. Konkrete Hinweise der Betroffenen auf einen rassistischen Hintergrund wurden ignoriert, ihre Äußerungen zurechtgewiesen und die Angehörigen und Betroffenen schikaniert, diffamiert und kriminalisiert.
Dennoch ist dieses Deutungsmuster immer noch und immer wieder zu beobachten, sei es beim Anschlag von Hanau, bei der rassistischen Gewalttat des Kölner CDU-Politikers Hans-Josef Bähner oder bei vielen weiteren rassistischen Taten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Hendrik Wüst haben sich erst jüngst bei den Opfern des NSU entschuldigt: "Wir, Politik, der Staat und seine Sicherheitsbehörden, haben die Dimension des rechten Terrors (...) lange nicht wahrhaben wollen. (..) Wir waren lange blind für ein Netzwerk, das aus Rassenhass und menschenfeindlicher Nazi-Ideologie mordete, verletzte und raubte, obowhl es durchaus Spruren hinterließ. Wir haben viel zu lange gebraucht, um Zusammenhänge zu erkennen." Das ist eine späte, jedoch deutliche Anerkennung der Versäumnisse. Fraglich ist jedoch, ob diesen Lehren auch Konsequenzen und veränderte Ermittlungs- und Berichtspraxen folgen.
Nun haben sich Ende Juni 2024 in Köln-Mülheim drei Sprengstoffanschläge in Häusern mit mehreren Wohnpartien ereignet: in der Keupstraße, der Wichheimer Straße und der Holweider Straße; wenige Tage später ein weiterer in Engelskirchen, nahe Köln. In den Mietshäusern in Köln-Mülheim leben - wie im gesamten Viertel - viele migrantische Menschen. Der Tagespresse ist zu entnehmen, dass die Sprengsätze in den Hausfluren so stark waren, dass Fenster und Türen zerbarsten. Die Detonationen rissen Menschen aus dem Schlaf und versetzen Bewohner*innen und Anwohner*innen in Angst, viele fühlen sich seitdem nicht mehr sicher. Menschen auf der Keupstraße und darüber hinaus fühlen sich zurückversetzt in die Vergangenheit, an die akute Angst und jahrelange Unsicherheit nach dem Anschlag des NSU, an den Schock, an die Verdächtigungen und Lügen.
Erste Medienberichte über die Sprengstoffanschläge spielen diese herunter, es sei "Pyrotechnik verwendet" worden (Express 3. Juli 24), auch bei einem Anschlag in Engelskirchen "war offenbar Pyrotechnik im Spiel" (WDR 2. Juli 24). Zugrunde liegen Pressemitteilungen der Polizei.
Die Ermittlungsbehörden setzen die Explosionen inzwischen öffentlich mit "organisiertem Drogenhandel" in Beziehung (Pressemitteilung der Polizei Köln vom 8.7.2024). Dabei verwenden sie ethnisierte Zuschreibungen von Kriminalität ("Mocro-Mafia") und schüren wieder einmal rassistische Narrative gegen die Migrationsgesellschaft. Zugleich wird ein mögliches rassistisches Motiv für die Anschläge augenscheinlich bereits jetzt ausgeschlossen.
Dieser Vorgehensweise widersprechen wir mit Nachdruck! Die Verlautbarungen der Polizei erinnern uns zu stark an die altbekannten Kommunikations- und Deutungsmuster. Nur vereinzelt ist zu lesen, dass es sich bei den medial verbreiteten "Ermittlungsergebnissen" der Polizei großteils um Hypothesen handelt (Wochenmagazin "Der Spiegel").
Als zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist:innen in Köln befürchten wir, dass damit erneut Betroffene ins Visier genommen werden, dass die Bewohner*innen der Straßen diffamiert und kriminalisiert werden. Die Opfer dieser Anschläge dürfen nicht wieder unter einem Versagen von Behörden und Medien leiden und mit den Ängsten und Folgen der Anschläge allein bleiben.
Statt über die Bedürfnisse der Betroffenen der Sprengstoffanschläge und dem Anstieg rechter und rassistischer Gewalt reden Ermittlungsbehörden und Medien von einer vermeintlich nötigen Aufrüstung der Polizei und der Rücknahme des kürzlich liberalisierten Cannabis-Gesetzes.
Es ist nun von größter Dringlichkeit, dass die Anschläge vollständig und nachvollziehbar aufgeklärt werden.
Angesichts des aktuellen rassistischen Klimas in unserer Gesellschaft ist es essentiell, diese Ereignisse äußerst ernst zu nehmen. Rechte Gewalt ist eine leider alltägliche, reale und tödliche Bedrohung. Gerade deshalb müssen Ermittlungen in Richtung rechter und rassistischer Motive ins Zentrum gestellt werden.
Wir appellieren an die Stadt Köln, sicherzustellen, dass die aktuellen Vorfälle umfassend untersucht werden. Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht ein weiteres Mal wiederholen. Wir beobachten den Verlauf der Ermittlungen, ebenso wie die Medienberichterstattung aufmerksam und erwarten Transparenz und Aufklärung.
Mit freundlichen Grüßen,
Herkesin Meydanı – Platz für alle
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.