Am 15.05.2022 wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Das Grundrechtekomitee formuliert zusammen mit dem Flüchtlingsrat NRW und vielen weiteren Initiativen und Verbänden in einem heute veröffentlichten Forderungspapier konkrete realpolitische Erwartungen an die künftige Landesregierung:
- Selbstbestimmtes Wohnen von Anfang an
- Gleichberechtigte Teilhabe an Bildung und Erwerbsarbeit
- Bleiberecht statt Abschiebung
- Ausbau einer adäquaten Versorgungs- und Unterstützungsstruktur
- Umbau der Ausländer- zu Willkommensbehörden
- Sichere Fluchtwege nach NRW
Die Forderungen im einzelnen:
Selbstbestimmtes Wohnen von Anfang an
Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht. Menschen, die sich nach ihrer Flucht in einer vulnerablen Situation befinden, in Massenunterkünften zu isolieren, ist mit einer humanitären
Flüchtlingspolitik unvereinbar.
Deshalb fordern wir...
→ den weitgehenden Verzicht auf zentrale Erstaufnahme- und Unterbringungseinrichtungen. Das Land NRW soll eine schnellstmögliche Zuweisung aller Schutzsuchenden in die Kom-
munen ermöglichen und dabei familiäre Bindungen und individuelle Bedürfnisse berücksichtigen. Der Aufenthalt in zentralen Aufnahmeeinrichtungen des Landes darf drei Monate nicht
überschreiten. In dieser Zeit ist ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu gewährleisten.
→ die Formulierung verbindlicher Mindeststandards für die kommunale Unterbringung von Flüchtlingen. Die dezentrale Unterbringung in geeigneten Wohnungen hat oberste Priori-
tät. Wo das nicht möglich ist, braucht es kleine, städtebaulich integrierte Gemeinschaftsunterkünfte mit abgeschlossenen Wohneinheiten und tragfähigem Gewaltschutzkonzept. Den
sozialen Wohnungsbau muss NRW umfassend ausbauen und fördern.
→ eine zügige und wohlwollende Prüfung von Umverteilungsanträgen durch die Bezirksregierung Arnsberg. Asylsuchende müssen innerhalb NRWs oder nach NRW umzuziehen dürfen,
sei es für die Arbeitsaufnahme, aus familiären, gesundheitlichen oder anderen guten Gründen.
→ die Aufhebung der restriktiven Wohnsitzregelung für Schutzberechtigte in NRW. Die Verpflichtung, bis zu drei Jahre in einer bestimmten Kommune zu leben, wirkt sich nachteilig auf
die Erwerbsteilhabe und die Wohnverhältnisse von Schutzberechtigten aus.
Gleichberechtigte Teilhabe an Bildung und Erwerbsarbeit
Menschen finden sich am schnellsten in neue Lebensumstände ein, wenn sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben, sich frei entfalten und für sich selbst sorgen können. Das geschieht am
besten durch umfassende schulische Bildung, Deutschförderung und einen niedrigschwelligen Zugang zu Ausbildung und Arbeit.
Deshalb fordern wir...
→ die Sicherstellung eines regulären und sofortigen Kita- und Schulzugangs für alle Kinder. Das schulnahe Bildungsangebot in Landesaufnahmeeinrichtungen und Spielstuben sind kein
gleichwertiger Ersatz für einen regulären Schul- oder Kitabesuch.
→ einen flächendeckenden Zugang zu Bildung für junge erwachsene Flüchtlinge beispielsweise durch eine Erweiterung der (Berufs-)Schulpflicht.
→ ein klares Signal an die Kommunen, ihre Ermessensspielräume bei der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis großzügig im Sinne der Asylsuchenden und Geduldeten zu nutzen und
auf restriktive Beschäftigungsverbote zu verzichten.
Darüber hinaus erwarten wir von der künftigen Landesregierung einen aktiven Einsatz auf der Bundesebene für...
→ Integrationskursangebote für alle Flüchtlinge unabhängig von Aufenthaltsstatus, Herkunftsland oder Einreisedatum, wie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung angekündigt.
→ einen uneingeschränkten Zugang zur Erwerbstätigkeit sowie zur Studiums- und Ausbildungsförderung für alle Asylsuchenden und Geduldeten.
Bleiberecht statt Abschiebung
Abschiebungen sind kein Bestandteil einer humanitären Flüchtlingspolitik. Ein sicherer Aufenthaltsstatus ist Voraussetzung und Motivation, um sich in die Gesellschaft einzubringen und
das eigene Leben frei zu gestalten. Die unsäglichen Kettenduldungen, die Menschen über Jahre hinweg in Unsicherheit lassen, gehören abgeschafft.
Deshalb fordern wir...
→ die volle Ausschöpfung aller gesetzlichen Bleiberechts- und Härtefallregelungen durch progressive Erlasse auf Landesebene. Die Ausländerbehörden müssen die Bleiberechtsmöglichkeiten von Geduldeten von Amts wegen prüfen – sowohl routinemäßig als auch anlassbezogen vor Einleitung etwaiger aufenthaltsbeendender Maßnahmen.
→ die Stärkung der Härtefallkommission des Landes durch eine Änderung der zugrundeliegenden Verordnung. Die Kommunen müssen Entscheidungen der Härtefallkommission abwarten und bei positivem Votum ein Bleiberecht erteilen.
→ eine klare Vorgriffsregelung für die im Bundeskoalitionsvertrag angekündigte Ausweitung des Bleiberechts für langjährig Geduldete, gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende
sowie die Einführung eines sog. Chancen-Aufenthaltsrechts. Wer in naher Zukunft von diesen Erleichterungen profitieren wird, darf jetzt nicht abgeschoben werden.
→ die umfassende Umsetzung der Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus. Diese fordert von Ländern und Kommunen, auf Abschiebungen von Roma zu verzichten
und ihnen ein Bleiberecht zu gewähren. Damit würde NRW seiner historischen Verantwortung für diese Minderheit gerecht.
→ Abschiebungen aus Schulen, Ausbildungs- und Jugendhilfeeinrichtungen, Kliniken und anderen besonderen Schutzräumen generell zu untersagen. Abschiebungen dürfen nicht zur
Nachtzeit stattfinden. Auch von der Abschiebung kranker Menschen und von Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete ist abzusehen.
→ die ersatzlose Schließung der Abschiebungshaftanstalt in Büren und den Verzicht auf einen neuen Ausreisegewahrsam in Düsseldorf. Die hohe Zahl der von Gerichten aufgehobenen
Haftbeschlüsse ist eines Rechtsstaates unwürdig. Anstatt in effizientere Abschiebungen sollte das Land NRW in die Teilhabe von Flüchtlingen investieren.
Ausbau einer adäquaten Versorgungs- und Unterstützungsstruktur
Damit Flüchtlinge in NRW weiterhin Unterstützung in rechtlichen und sozialen Belangen als wichtigen Schritt zur Teilhabe erhalten, bedarf es einer verlässlichen professionellen Bera-
tungsstruktur und eines breiten zivilgesellschaftlichen Engagements. Auch eine adäquate Gesundheitsversorgung der Ankommenden ist unerlässlich.
Deshalb fordern wir...
→ eine unabhängige und flächendeckende soziale Beratung für Flüchtlinge. Dazu zählen u.a. die Asylverfahrensberatung, die regionale Beratung und die Psychosozialen Zentren (PSZ). Das
Land NRW muss die Professionalität und Qualität dieser Beratung sicherstellen: durch geeignete Ausschreibungskriterien und eine langfristige, auskömmliche Finanzierung der freien Trä-
gerinnen.
→ die Förderung des ehrenamtlichen Engagements von und für geflüchtete und zugewanderte Menschen.
→ die Verbesserung und Institutionalisierung des Landesprogramms „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“, damit es für Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus zu einem echten
Bleiberechtsprogramm wird.
→ die Förderung der elektronischen Gesundheitskarte für Flüchtlinge (eGK), um Asylsuchenden und Geduldeten in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts einen schnelleren und diskriminierungsärmeren Zugang zu medizinischer Behandlung zu ermöglichen.
→ dass das Land NRW Sorge trägt für eine großzügige Gewährung der sog. sonstigen Leistungen nach § 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) durch Bezirksregierungen und Sozialämter. So ist u.a. die Kostenübernahme für Psychotherapien und die Behandlung chronischer Erkrankungen sowie für professionelle Sprachmittlung im medizinischen und (psycho-)therapeutischen Bereich sicherzustellen.
Umbau der Ausländer- zu Willkommensbehörden
Viele Ausländerbehörden in NRW sind chronisch unterbesetzt und für zugewanderte Menschen kaum mehr zu erreichen. Nötig ist ein Wandel der Ausländerbehörden zu Willkommens-
und Dienstleistungsbehörden im Sinne der Betroffenen.
Deshalb fordern wir, ...
→ dass das Land NRW alle verfügbaren Möglichkeiten nutzt, um die Erreichbarkeit und Handlungsfähigkeit der kommunalen Ausländerbehörden wiederherzustellen und zu garantie-
ren. Die künftige Landesregierung muss die personelle Aufstockung der Behörden unterstützen und u.a. ihre Digitalisierung fördern.
→ dass das Land NRW die Eigenwahrnehmung der Ausländerbehörden als Willkommensbehörden fördert. Mehr und verbindlichere Schulungsangebote für die Mitarbeitenden können
dabei helfen. Geltende Erlasse müssen in den Ausländerbehörden bekannter gemacht und ihre Wirksamkeit kontinuierlich evaluiert werden. So lassen sich Entscheidungsqualität und
Aufenthaltsperspektiven gleichermaßen verbessern.
Sichere Fluchtwege nach NRW
Die gezielte Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Ausland ist ein wichtiges Instrument des Flüchtlingsschutzes. So müssen Schutzsuchende ihr Leben nicht auf der Flucht riskieren, son-
dern können sicher und legal nach Deutschland einreisen.
Deshalb fordern wir...
→ dass sich das Land NRW auf Bundesebene aktiv für eine Ausweitung von Resettlement- und humanitären Aufnahmeprogrammen sowie für die Etablierung eines Relocation-Programms für Schutzsuchende aus den Erstankunftsländern der EU einsetzt.
→ den bundespolitischen Einsatz NRWs, damit die Länder künftig ohne Zustimmung des Bundes eigene Aufnahmeprogramme schaffen können. In der Folge soll NRW über großzügige
Landesaufnahmeprogramme besonders gefährdeten Menschen aus Afghanistan und anderen Kriegs- und Krisengebieten, aber auch Schutzsuchenden aus Flüchtlingslagern an den EU-
Außengrenzen eine sichere Zuflucht bieten.
→ eine Anpassung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes NRW zur finanziellen Entlastung von Kommunen, die freiwillig bereit sind, mehr Schutzsuchende aufzunehmen, als die Zuweisungs-
quote vorsieht.