Blickt man vom Herbst 2020 auf den Sommer der Migration 2015/2016, erscheint diese tiefe Krise des EU-Grenzregimes, in der zumindest oberflächlich Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten weit verbreitet waren, wie ein kurzer, flirrender Sommertraum. Betrachtet man jedoch die anschließenden fünf Jahre, lässt sich kaum entscheiden, welche neuen Elemente des europäischen Festungskapitalismus am schockierendsten sind. Sind es die illegalen „Push-Backs“ von Geflüchteten durch kroatische und griechische Polizeieinheiten an den EU-Außengrenzen oder ist es die Kriminalisierung der Seenotrettung und das Sterbenlassen im zentralen Mittelmeer? Sind es die faktisch EU-finanzierten libyschen Folterlager oder das politisch gewollte Elend im EU-Hotspot Moria?
Aus menschenrechtlicher Sicht sollten die Ereignisse von 2015/2016 nicht negativ als „Migrations-“ oder „Flüchtlingskrise“ verstanden und benannt werden. Stattdessen umfassten sie – trotz tiefer Ambivalenzen – seltene progressive Erfolge. Die Abschottung der EU gegenüber Geflüchteten wurde temporär außer Kraft gesetzt, wodurch über eine Million Menschen Chancen auf Schutz und Lebensperspektiven in der EU erhielten.
Dieser Erfolg resultierte aus einem zeitweise günstigen Kräfteverhältnis: sozialen Bewegungen der Flucht und Migration gelang es, unterstützt von linksliberalen und linken Akteuren, ihre legitimen Rechte auf Sicherheit und Lebenschancen durchzusetzen; einige Kapitalfraktionen, interessiert an der Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft, zeigten sich zeitweise liberal und offen; Gewerkschaften und ihre sozialen Basen übten sich, trotz ihrer oft stillschweigenden Unterstützung von Grenzabschottung, in Rhetorik und Praxis internationaler Solidarität. Für einige Monate gerieten nationalistische und rassistische Kräfte, die jahrelang fast jede Öffnung für Schutzsuchende verhindert hatten, in eine erfreuliche Defensive.
Fünf Jahre nach dem Sommer 2015 lässt sich jedoch erkennen, dass dessen menschenrechtliche Erfolge beschränkt und temporär waren. Der zentrale Grund ist, dass dominierende soziale (Klassen-) Kräfte auf die dramatische ökologische, soziale und ökonomische Vielfachkrise des kapitalistischen Weltsystems mit der Strategie eines Festungskapitalismus reagieren: Um trotz der Krisen und ihrer Effekte (darunter wachsende Bewegungen der Flucht und Migration) ihren Einfluss zu sichern, versuchen sie ihre Macht durch den Aufbau eines „globalen Polizeistaats“ repressiv zu sichern.
Das Projekt eines europäischen Festungskapitalismus ist Teilelement dieser autoritären und rassistischen Elitenstrategie, die bemüht ist, die transnationale Flucht und Migration von Angehörigen der globalen Arbeiter- *innenklasse zu kontrollieren und profitorientiert zu managen. Seit 2015 haben sich diese festungskapitalistischen Tendenzen weiter verschärft. Den EU-Regierungen ist es gelungen, Migrationskontrollen durch Deals mit den EU-Nachbarstaaten (Türkei, Libyen u.a.) erneut auszulagern. Deutlich weniger Geflüchtete erreichen EU-Territorium. Die Abschottung der EU-Außengrenze wurde zudem durch mehr Kompetenzen und Ressourcen für Frontex, neue Zäune und Grenzbarrieren, technologische Aufrüstung (Drohnen, Satelliten, Datenbanken) und illegale Push-Backs tödlich verschärft. Die Kriminalisierung ziviler Seenotrettung im Mittelmeer macht das Sterbenlassen zur offiziellen EU-Politik. Schutzsuchende, die es in die EU schaffen, werden zunehmend in einem wuchernden Lagersystem interniert. Moria ist nur die Spitze eines wachsenden Eisbergs erzwungener Inhaftierung von Geflüchteten in der EU.
Diese Tendenzen stellen die Bevölkerungen der EU vor die Wahl, welche Bearbeitung der Vielfachkrise sie unterstützen wollen. Entscheiden sie sich dafür, die fortgesetzte Abschottung der EU gegenüber Flucht und eigensinniger Migration zu unterstützen, forcieren sie so (mitunter ungewollt) eine autoritäre Bearbeitung der Vielfachkrise, die auf ein von großen Teilen der heutigen „politischen Mitte“ unterstütztes Bündnis zwischen ultrarechten Kräften und transnationalem Kapital hinauslaufen könnte. Wollen sie hingegen – letztlich im eigenen ökologischen und politischen Interesse – Teil einer ökologischen, solidarischen und radikal demokratischen Antwort auf die globalen Krisen sein, so gehört zu dieser Antwort auch das politische Projekt offener Grenzen.
Eine Zwischenposition menschenrechtskonformer Grenzen ist heute illusorisch: Angesichts der eskalierenden Vielfachkrise wären auch vermeintlich moderate Migrationskontrollen notwendig zutiefst gewaltsam. Zu einer progressiven Reaktion auf festungskapitalistische Tendenzen gehört deshalb ein Menschenrecht auf globale Bewegungsfreiheit. Ein solches Recht durchzusetzen, ist notgedrungen ein langfristiges Emanzipationsprojekt. Doch nur das offensive Eintreten für dieses Recht kann Einstellungen und Diskurse wirklich verschieben und konkreten Kämpfen heute eine klare ethisch-politische Orientierung geben. Ein solches Menschenrecht – verstanden als das Recht, für ein gutes Leben nicht migrieren oder fliehen zu müssen und als das Recht, in Würde an anderen Orten anzukommen und zu leben – sollte im Sinne Wolf-Dieter Narrs materialistisch verstanden werden.
Es ist konkret verankert in den realen Bedürfnissen, dem Leiden und den Hoffnungen, die in den Bewegungen und Kämpfen der Migration artikuliert werden. Es lässt sich erreichen, indem emanzipatorische soziale Bewegungen und solidarische Kämpfe von unten grundlegende gesellschaftliche Transformationen durchsetzen und so die Bedingungen dafür schaffen, dass sich diese Bedürfnisse tatsächlich realisieren lassen.
Fabian Georgi ist seit Ende 2019 Mitglied im Vorstand des Grundrechtekomitees. Er arbeitet als Post-Doc am Institut für Politikwissenschaft der Universität Marburg und promoviertebei Wolf-Dieter Narr.