Das Grundrechtekomitee fordert zusammen mit 70 weiteren Organisationen einen fairen und transparenten Prozess für die angeklagten Moria 6 auf der Grundlage der Unschuldsvermutung: Am 11. Juni 2021 findet auf der griechischen Insel Chios der Prozess gegen vier der sechs jugendlichen Migranten statt, die beschuldigt werden, das Camp Moria niedergebrannt zu haben.
Vom Moment ihrer Verhaftung an und vor dem Start eines ordentlichen Gerichtsverfahrens wurden sie in der Öffentlichkeit als Schuldige präsentiert. Zwei mitangeklagte Minderjährige wurden bereits im März zu Gefängnisstrafen verurteilt, trotz mangelnder Beweise und einem von Unregelmäßigkeiten durchzogenen Gerichtsverfahren.
Wir sind zutiefst besorgt darüber, dass ihr Recht auf einen fairen und gerechten Prozess, basierend auf der Unschuldsvermutung, nicht gewährleistet ist und sie stattdessen zu Sündenböcken für die unmenschliche EU-Migrationspolitik gemacht werden. Wir stehen in Solidarität mit den Moria 6 und gegen das tödliche europäische Grenzregime!
Am 8. September 2020 brannte – angefacht durch einen starken Wind – das berüchtigte Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos vollständig ab. Die großflächigen und langanhaltenden Brände, die gut dokumentiert und nahezu live über soziale Medien übertragen wurden, brachten die anhaltende Politik der Abschreckung durch unmenschliche Bedingungen in Europas Hotspot-Lagern in der Ägäis zurück in das mediale Rampenlicht (1).
Anstatt das Feuer als unvermeidliche Katastrophe in einer tödlichen Lagerinfrastruktur zu sehen, verhaftete der griechische Staat sechs junge afghanische Migranten und präsentierte sie als die Schuldigen und alleinige Auslöser des Feuers womit versucht wurde, eine weitere öffentliche Debatte über die Lebensbedingungen im Lager und die politische Verantwortung im Keim zu ersticken.
Die Brände ereigneten sich zu einer Zeit, als die Zahl der im Lager lebenden Menschen 12.000 erreicht hatte, Bewegungseinschränkungen seit fast sechs Monaten in Kraft waren und sich eine wachsende Angst vor Covid-19 im Lager ausbreitete. Eine Woche vor dem Brand war die erste Person positiv getestet worden. Anstatt die infizierten Menschen aus dem Lager zu bringen und die Lebensbedingungen für die Eingeschlossenen zu verbessern, plante die Regierung, das gesamte Lager mit einem doppelten Nato-Hochsicherheitszaun komplett abzuriegeln und ging gewaltsam gegen jeden Protest vor (2).
Die Behörden leugnen nicht nur jegliche Verantwortung, es besteht auch Grund zur Annahme, dass die Angeklagten keinen fairen und gerechten Prozess erwarten können. Sie wurden von den Behörden vom Moment ihrer Verhaftung an als schuldig dargestellt. Der griechische Minister für Migration und Asyl erklärte nur eine Woche nach dem Brand, dass “das Lager von sechs afghanischen Flüchtlingen in Brand gesetzt wurde, die verhaftet wurden”, was ihr Recht auf einen fairen Prozess unter der Unschuldsvermutung verletzt. Fünf der Moria 6 waren minderjährig, als sie verhaftet wurden, aber nur zwei von ihnen wurden vom griechischen Staat als solche anerkannt und infolgedessen nach dem Jugendstrafrecht behandelt.
Die Befürchtungen von Prozessbeobachtenden haben sich bereits bewahrheitet, als die beiden offiziell als Minderjährige anerkannten Personen im März 2021 vor Gericht standen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die beiden bereits seit fast sechs Monaten in Untersuchungshaft, der gesetzlichen Höchstdauer für Minderjährige, und hätten folglich bald entlassen werden müssen. In einer eilig einberufenen Gerichtsverhandlung, die grundlegende prozessuale Standards der Fairness missachtete (3), wurden sie trotz fehlender Beweise für schuldig befunden und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Fall der Moria 6 ist nicht das erste Mal, dass MigrantInnen in Griechenland willkürlich verhaftet und angeklagt wurden (siehe den Fall der Moria 35). Diese Praxis ist schon lange Teil des unmenschlichen EU-Grenzregimes. Im aktuellen politischen Umfeld hat die Kriminalisierung von Migration jedoch eine neue Stufe erreicht, ebenso wie die illegalen Pushbacks von MigrantInnen durch die Behörden.
https://freethemoria6.noblogs.org
Wir fordern einen fairen und transparenten Prozess am 11. Juni!
Wir stehen in Solidarität mit den Moria 6 und gegen das tödliche europäische Grenzregime!
Wir fordern die EU und den griechischen Staat auf, Verantwortung für die unmenschlichen Lager, die sie mutwillig geschaffen haben, und für das menschliche Leid, das daraus resultiert, zu übernehmen!
– Stoppt die Abschottung der Menschen am Rande der EU!
– Schluss mit dem EU-Türkei-Deal!
– Keine weiteren Morias!
– Free the Moria 6!
Unterzeichnet auch die Petition: https://www.change.org/FreeTheMoria6
Fußnoten:
(1) Dem Brand waren im Laufe der Jahre viele kleinere Brände vorausgegangen, z. B. verursacht durch defekte Stromleitungen oder Gaskocher. Sie forderten das Leben von zwei kurdischen Migranten im November 2016, von Faride Tajik im September 2019 und von einem 6-jährigen Mädchen im März 2020. Bis heute wurde keine staatliche Behörde, Regierungsinstitution oder ein Verantwortlicher Campmanager für diese Brände, die durch Überbelegung und eine tödliche Lagerinfrastruktur entstanden sind, zur Rechenschaft gezogen.
(2) Von März bis September 2020, während Bewegungseinschränkungen über das Camp verhängt wurden, gab es kontinuierliche Proteste: gegen das Fehlen von öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen, Hungerstreiks wegen willkürlichen Inhaftierungen, Demonstrationen nach tödlicher Gewalt. Die Polizei reagierte, indem sie die Kommunikation des Lagers mit der Außenwelt blockierte, mutmaßliche Organisatoren mit Verhaftung bedrohte und mitunter Tränengas und Rauchbomben einsetzte. Die Reaktion auf das Feuer war nicht anders. Der griechische Staat rief den Notstand aus, schickte Einheiten der Bereitschaftspolizei von Athen nach Lesbos und setzte Tränengas gegen Menschen ein, die bei dem Feuer ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten und auf der Straße campierten. Die Polizei versagte auch beim Schutz der Menschen, als bewaffnete rechtsextreme Gruppen diese schikanierten.
(3) So erschien beispielsweise der Kronzeuge der Anklage, der durch seine Aussage die Verhaftung der Angeklagten verursacht hatte, nicht und konnte angeblich von den Behörden nicht ausfindig gemacht werden. Der Staatsanwaltschaft wurde jedoch erlaubt, seine schriftliche Erklärung zu verlesen, trotz des Einspruchs der Anwälte, dass dies das Recht der Angeklagten verletze, jeden Zeugen gegen sie ins Kreuzverhör zu nehmen, ein vom ECHR bestätigtes Grundrecht.