21. Jan. 2021 © dpa
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Einige Gedanken des Grundrechtekomitees zur Kampagne #ZeroCovid

Vor wenigen Tagen wurde unter dem Namen #ZeroCovid eine Kampagne gestartet, die für eine veränderte Strategie im Umgang mit Covid-19 auf europäischer Ebene wirbt. Die in den letzten Monaten praktizierte halbherzige Strategie des „flatten the curve“ wird dort zurecht aufgrund der seit Wochen hohen Infektionszahlen, der Überlastung des Gesundheitswesens und der exorbitant hohen Todesfälle für gescheitert erklärt.

Stattdessen soll ein konsequenter, befristeter Shutdown die Pandemie eindämmen, wie dies beispielsweise Neuseeland praktiziert hat. In einer „solidarischen Pause“ mit einer Dauer von mehreren Wochen sollen direkte Kontakte auf ein Minimum reduziert werden, um so das Infektionsgeschehen zum Erliegen zu bringen. Um dies zu erreichen, sollen auch wirtschaftliche Aktivitäten weitgehend eingestellt werden. Dabei sollen Einzelpersonen und Betriebe finanziell abgesichert werden.

Wir tragen viele Teile der Forderungen der Kampagne #ZeroCovid mit und begrüßen einen Aufruf, der notwendige Impulse setzt. Nach einem ausführlichen Diskussionsprozess haben wir uns aber gegen eine Unterzeichnung entschieden.

Wir halten es für die richtige Zielsetzung, das Infektionsgeschehen weitgehend und schnellstmöglich reduzieren zu wollen und damit die die Zahl der schwer Erkrankten und Todesfälle auf Null zu senken. Die bisherige Privilegierung bestimmter Wirtschaftszweige und des Arbeitslebens bei gleichzeitig weitgehender Einschränkung sozialer, kultureller und privater Aktivitäten muss endlich beendet werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der aktuell von der Exekutive diskutierten Maßnahmenverschärfungen, die auch weiterhin schwerpunktmäßig auf die Einschränkung privater Kontakte abzielen und einzelne Grundrechte immer weitreichender einschränken, aktuell bis hin zu Ausgangssperren und dem möglichen Einsperren von Quarantänebrecher*innen.

Beschlüsse einer Exekutive aber, die zu einer dauerhaft verlängerten Einschränkung des öffentlichen und privaten Lebens und gleichzeitig zu wenig Erfolg gegen die Pandemie führen, zehren die Gesellschaft aus und führen zu noch kaum absehbaren, möglicherweise dauerhaften Schäden.

Deswegen unterstützen wir die Forderungen nach einer solidarischen Verteilung der Lasten, nach europaweiten Covid-Solidaritätsabgaben und der umfangreichen finanziellen Absicherung für alle. Die sofortige und endgültige Entkopplung des Gesundheitswesens von Profitstrategien, Lohnerhöhungen und damit einhergehend einer umfassenden Verbesserung der Arbeitsbedingungen sind ebenso notwendig wie eine globale, patentfreie Bereitstellung der Impfstoffe unabhängig von wirtschaftlichen Interessen.

Gleichzeitig kann der Aufruf der Kampagne #CovidZero nur als ein notwendiger Anstoß für einen Kurswechsel in der aktuellen Pandemie begriffen werden. Es ergeben sich viele offene Fragen und Risiken bezüglich einer möglichen Umsetzung der Forderungen, von denen wir einige im folgenden anreißen wollen:

Zum einen werden die sozialen Folgen des Shutdowns nicht ausreichend thematisiert. Finanzielle Solidarität allein reicht nicht; denn für viele Menschen hat der Verzicht auf bzw. das Verbot von direktem Kontakt außerhalb des Haushalts massive Konsequenzen, die finanzielle Hilfe alleine nicht auffangen kann. Das gilt für diejenigen, die sowieso schon massiv unter den Pandemiemaßnahmen leiden; insbesondere für Kinder und Jugendliche, für arme und ältere Menschen, für Geflüchtete ohne Familie und diejenigen Menschen – besonders Frauen – in gewaltvollen Beziehungen.

Hier braucht es konkrete solidarische Maßnahmen, die komplette Isolierung vieler Menschen, insbesondere von sowieso schon gesellschaftlich Benachteiligten, zu verhindern. Dabei sind unter anderem die solidarischen Ansätze vom Beginn der Pandemie zur nachbarschaftlichen Hilfe und Unterstützung gefragt, sie müssen in Kiezen und Vierteln sowie in ländlichen Regionen (wieder) begonnen und ausgebaut werden. Die Frage „who cares?“ – wie verteilen wir Fürsorge solidarisch? stellt sich mit Vehemenz.

Auch muss mit bedacht werden, dass zahlreiche Menschen von den sogenannten Sozialsicherungssystemen finanziell gar nicht aufgefangen werden, wie etwa Illegalisierte, arme Menschen, die kein Hartz-IV beziehen oder Ausländer*innen, die kein Recht darauf haben. Wir möchten zudem das Problem aufwerfen, dass auch der geforderte Shutdown auf das Funktionieren der „systemrelevanten“ Bereiche angewiesen ist. Hier werden wieder vorwiegend Menschen getroffen, die ganz unten in der Gesellschaft stehen: Reinigungskräfte, Mitarbeiter*innen von Supermärkten und von Lieferservices, Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft. Auch ein Shutdown würde Ungleichheiten und Stigmatisierungen in der Gesellschaft weiter fortführen.

Letztendlich blendet der Aufruf die offensichtliche Frage aus, wie der Shutdown umgesetzt bzw. durchgesetzt werden soll. Toleriert er autoritäre Mittel? Der knappe Verweis am Ende auf die Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats ist aus unserer Sicht nicht ausreichend. Insbesondere das Risiko der Durchsetzung mit repressiven Mitteln, mit starker Polizeipräsenz und Straflogiken sollte gesondert benannt und muss deutlich zurück gewiesen werden.

Die Frage, wie ein Shutdown in der alltäglichen Praxis umgesetzt werden kann, wird vollständig ausgeklammert, sollte aber eine der Schlüsselfragen sein. Ohne die Problematisierung dessen ist die folgende im Aufruf enthaltene Aussage inhaltslos: „Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits. Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat. Die Einheit von beidem ist der entscheidende Schlüssel zu einer solidarischen ZeroCovid-Strategie“.

Schließlich ist der Aufruf #ZeroCovid auf die EU konzentriert, eine langfristige Lösung kann aber nur global sein und sollte schon jetzt mitgedacht werden. Vorübergehende Grenzschließungen kritisieren wir – dies würde alle diejenigen in ihrer Bewegungsfreiheit noch weiter einschränken und ihnen die Lebensgrundlage entziehen, die transnational leben und/oder arbeiten müssen bis hin zu Menschen auf der Flucht. Zudem bleibt die Forderung nach der sofortigen Auflösung aller Geflüchtetenlager und Massenunterkünfte und nach der dezentralen selbstbestimmten Unterbringung eine Kernforderung.

Die dazugehörige Petition der Kampagne #ZeroCovid richtet sich explizit an die Deutsche Bundesregierung, die Schweizer Bundesregierung, die Österreichische Bundesregierung und an Europäische Entscheidungsträger*innen. Sie fordert von ihnen als Adressaten somit die konkrete Umsetzung des angedachten Shutdowns von oben ein.

Die im Kern richtigen Forderungen der Kampagne #ZeroCovid sollten in einem kollektiven Prozess von unten, statt autoritär von oben umgesetzt werden. Eine linke Antwort auf die Pandemie darf genau diese schwierige Frage nicht ausblenden, sondern muss sie im Gegenteil deutlich benennen: (Wie) kann in den aktuellen Verhältnissen ein Shutdown ohne staatliches autoritäres Verhalten umsetzbar sein?

Sinnvolle Maßnahmen gegen die aktuelle Pandemiesituation und für einen solidarischen und effektiven befristeten Shutdown sollten zugleich richtungsweisend sein hin zu einer solidarischen und ökologisch gerechten Zukunft nach der Pandemie, für ein besseres Morgen.

 

https://zero-covid.org/