In der letzten Ausgabe der Informationen hatten wir die Beobachtung zweier Strafprozesse gegen Polizist*innen wegen tödlicher Einsätze in Mannheim und Dortmund angekündigt. Am 1. März 2024 ging der Prozess am Landgericht Mannheim zu Ende. Wir bewerten das Urteil als katastrophal: Es offenbart eine unverhohlene institutionelle Nähe von Strafjustiz, Staatsanwaltschaft und Polizei und ist insbesondere von Ableismus geprägt.
Ableismus ist das Fachwort für die Diskriminierung wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten. Ableismus ist die direkte Übersetzung des englischen „ableism“. Es setzt sich zusammen aus „to be able“ (= fähig sein) und der Endung „ism“ (= ismus). So verweist „fähig sein“ auf biologische, körperliche oder geistige Normen, die in einer Gesellschaft als Maßstab oder Bewertungsmuster wirken: Tief verwurzelte Überzeugungen zum Ideal des Körpers und der Psyche, aber auch zu Gesundheit, Produktivität und Schönheit.1
Zum Hintergrund: Ein Polizist war wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung im Amt angeklagt. Schuldig befunden wurde er nur der Körperverletzung im Amt, wegen vier Faustschlägen gegen den am Boden liegenden Ante P.. Der Polizist soll eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 50 Euro zahlen. Sein Kollege, dem fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen worden war, weil er seinen Kollegen nicht zurückgehalten und den sich nicht mehr bewegenden Ante P. knapp sechs Minuten gefesselt in Bauchlage hatte liegen lassen, wurde freigesprochen. Laut Gericht habe nicht zweifelsfrei bewiesen werden können, dass die als rechtswidrig erkannten Faustschläge einen Anteil am Tod von Ante P. gehabt hätten. Vielmehr sei auch ein plötzlicher Herzstillstand möglich gewesen, was den beiden Polizisten nicht zugerechnet werden könne. Demnach hätte auch ein Drehen in die stabile Seitenlage Ante P. nicht zweifelsfrei gerettet, daher könne man keine fahrlässige Tötung durch Unterlassen annehmen.
Ante P. hatte am 2. Mai 2022 minutenlang unbeweglich auf dem Mannheimer Marktplatz gelegen, niemand kam ihm zu Hilfe. Hinweise aus der Menschenmenge, dass Ante P. nicht mehr atme, hatten die neben ihm knienden Polizisten ignoriert. Dieses Nichthandeln soll nun strafrechtlich nicht beanstandbar sein, weil Ante P. möglicherweise trotz Hilfeleistung verstorben wäre. Das ist mehr als zynisch und eine justizielle Sonderbehandlung, die nicht-polizeilichen Angeklagten nicht zuteil wird.
Ante P. lebte seit Jahrzehnten mit einer psychischen Erkrankung. Am Morgen des 2. Mai ging es ihm nicht gut. Er sollte stationär behandelt werden, blieb aber nicht im Krankenhaus, worauf sein Arzt die Polizei rief. Diese eskalierte eine bis dahin ruhige Situation bis hin zu Ante P.s Tod. Laut aktueller Forschung sind psychisch erkrankte Personen einem deutlich erhöhten Gewaltrisiko durch die Polizei ausgesetzt. Dies erklärt sich unter anderem durch deren Stigmatisierung als gefährlich und unberechenbar. Diese Stereotype sind längst wissenschaftlich widerlegt, halten sich aber hartnäckig. Solche Zuschreibungen führen dazu, dass Betroffene von der Polizei häufiger als „gefährlich“ eingeschätzt und dadurch ihre Handlungen falsch interpretiert werden und so schneller Gewalt angewendet wird. Auch die polizeilichen Handlungen gegen Ante P. basierten auf diesen Zuschreibungen. Dies zeigte sich im Prozess durchgängig, etwa in der Aussage des Hauptangeklagten und in der Wahl der Verteidigungsstrategie, die anhand dieser Stereotype die Gewalt der Polizisten rechtfertigte.
Die besondere Vulnerabilität (Verletzlichkeit) von Menschen mit psychischen Erkrankungen beachtete das Gericht nicht, im Gegenteil: Es begründete seine Entscheidung mit eben diesen Vorurteilen. Der vorsitzende Richter sprach davon, dass eine „abstrakte Gefahr“ von Personen mit einem „akuten psychotischen Schub“ aus gehe. Man hätte Ante P. nicht einfach ziehen lassen können, da nicht abschätzbar sei, wie sich eine psychotische Person verhalten werde. Es ist skandalös, dass das Gericht diese ableistischen Einstellungen zur Grundlage der Entscheidung machte und somit die Gewalteskalation gegen Ante P. als gerecht fertigt bewertet. Diese justizielle Rechtfertigung tödlicher Gewalt gegen eine vulnerable Person kann dazu führen, dass die Polizei Personen in psychischen Ausnahmesituationen künftig noch häufiger mit Gewalt begegnet. Der Anwalt von Ante P.s Schwester bewertete das Urteil als Diskriminierung von psychisch kranken Menschen. Dem müssen wir uns als Menschenrechtsorganisation ebenso wie als Teil der Zivilgesellschaft entgegenstellen.
■ Michèle Winkler
1 Quelle: https://www.teilhabeberatung.de/woerterbuch/ableismus; letztmals abgerufen am 6. Mai 2024