29. Okt. 2020 © dpa
Demokratie / Polizei / Versammlungsrecht

Ein progressives Versammlungsfreiheitsgesetz für Berlin? Wohl zu viel versprochen!

Die rot-rot-grüne Regierungskoalition hat in Berlin als eines der letzten Bundesländer einen Entwurf für ein eigenes Berliner Versammlungsgesetz vorgelegt, das das alte Bundesrecht ablösen soll. Sie bewirbt es als Versammlungsfreiheitsgesetz, das als „deutschlandweites Vorbild für ein demokratieförderndes und grundrechtsbezogenes Versammlungsrecht dienen soll“. Die Humanistische Union (HU) hatte für den 18. August zu einem Podiumsgespräch eingeladen, um zu klären, ob das neue Gesetz tatsächlich einen versammlungsfreundlichen Schritt darstellt.

Ich wurde für das Grundrechtekomitee eingeladen, einen kritischen Blick auf den Gesetzentwurf zu werfen: Der Anspruch, ein modernes Versammlungsfreiheitsgesetz festzuschreiben, das insbesondere die umfangreiche Rechtsprechung zusammenführt, ist begrüßenswert, da es die Ausübung der Versammlungsfreiheit auch für ungeübtere Anwender*innen erleichtert. Allerdings weist der Entwurf Inhalte als Fortschritt aus, die längst geltende Rechtsprechung sind und schon millionenfach durch Demonstrierende in Anspruch genommen wurden. Die Übernahme versammlungsrechtlicher Mindeststandards ins Landesrecht, etwa das Deeskalations- und Kooperationsgebot oder der ungehinderte Zugang zu Versammlungen, ist noch keine Demokratieförderung.

LANGE GEFORDERTE VERBESSERUNGEN BLEIBEN AUS

So soll etwa weiterhin die Polizei zuständige Versammlungsbehörde bleiben. Der Zielkonflikt von staatsfreier Ausübung der Versammlungsfreiheit einerseits und der polizeilichen Aufgabe der Gefahrenabwehr andererseits, aber lässt sich nicht zufriedenstellend auflösen. Die Polizei gewährt regelmäßig der Gefahrenabwehr den Vorrang. Schon im Vorfeld werden Versammlungen unzulässig eingeschränkt; die freie Ausübung muss aufwändig vor Gericht erstritten  werden. Mit einer eigens zuständigen, durchsetzungsfähigen Behörde, die im Sinne der Versammlungsfreiheit agiert und sich an der geltenden Rechtsprechung orientiert, würde der polizeilichen Logik der Gefahrenabwehr etwas entgegengesetzt. Dies hätte Bestandteil eines progressiven Versammlungsrechts sein müssen. Insgesamt steht nicht die Integrität der Versammlungen im Mittelpunkt, sondern ein umfangreicher Katalog von Maßnahmen der Gefahrenabwehr.

Der noch heute als versammlungsrechtliches Maß der Dinge geltende Brokdorf-Beschluss führt aus: „Der grundsätzlich unreglementierte und staatsfreie Charakter darf nicht durch exzessive Observation und Registrierungen verändert werden.“ Wichtig ist, dass Maßnahmen keine abschreckende Wirkung auf potentielle Teilnehmende entfalten. Nichts anderes ist allerdings mit dem Gesetzentwurf zu befürchten, der der Polizei ausufernde Eingriffsmöglichkeiten in Versammlungen ausdrücklich erlaubt: die Untersagung der Teilnahme oder den Ausschluss von Versammlungen, Durchsuchungen und Identitätsfeststellungen.

Auch die geplanten Neuregelungen zu Waffen-, Uniformierungs- und Vermummungsverboten legen mit einem Anordnungsvorbehalt den Gestaltungsspielraum in die Hände der Polizei, die künftig schon im Vorfeld pauschal einschränkende Anordnungen treffen kann. Da die Nichtbefolgung dieser Anordnungen unter Strafe gestellt wird, soll die Polizei Berlin also künftig bestimmen können, was bei Versammlungen zur Straftat wird. Auch wenn die Neuregelung immerhin nur noch das „Verwenden“, nicht mehr das „Mitführen“ von Vermummungsmaterial unter Strafe stellt, bleibt die versprochene Entkriminalisierung also dennoch aus.

Der Entwurf sieht auch Verbotsmöglichkeiten und Einschränkungen von Versammlungen mit volksverhetzendem Charakter vor, insbesondere an Gedenkstätten und für Gedenktage an die Opfer des Nationalsozialismus. Ebenso soll aber das Verbot oder die Auflösung einer Versammlung möglich werden, „wenn diese geeignet oder dazu bestimmt ist, Gewaltbereitschaft zu vermitteln.“ Damit wird ein weitgehendes und unbestimmtes Merkmal für Versammlungseinschränkungen geschaffen, das die Polizei künftig nutzen könnte, um ihnen unliebsame Versammlungen mithilfe von übertriebenen Gefahrenprognosen zu unterbinden.

Alles in allem ist der Entwurf sichtlich um die Umsetzung progressiver versammlungsrechtlicher Standards bemüht. Aber der versprochene große Wurf ist er ganz sicher nicht und bleibt leider weit hinter den durch die Koalitiongeschürten Erwartungen zurück.

Für die ausführlichere Diskussion des Gesetzesentwurfs kann die Veranstaltung der Humanistischen Union angeschaut werden: youtube.com/watch?v=5TmXK_JY0zU oder vimeo.com/449426797