Die Digitalisierung zwischenmenschlicher Kommunikation hat das Feld der Inneren Sicherheit radikal verändert. Indem Telekommunikationskonzerne digitale Kommunikationsmittel bereitstellen, erheben sie digitale Daten über alle kommunikativen Handlungen. Diese Daten sind langfristig speicherbar und können rückwirkend und automatisiert ausgewertet werden. Das dadurch neu entstandene Informationspotential führte bereits ab seiner schrittweisen Einführung Mitte der 1990er Jahre zu einer Reihe von politischen Konflikten darüber, ob staatliche Repressionsapparate wie Polizei und Geheimdienste Zugriff auf diese Daten haben sollten.
Als prominentester, seit mehr als 25 Jahren andauernder Konflikt kann jener über die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung (VDS) gelten. Dieser dreht sich um die Frage, ob und wie der Staat die Telekommunikationsunternehmen dazu verpflichten darf, sogenannte Meta-Daten über die Kommunikation ihrer Kund*innen zu speichern – und ob es den staatlichen Repressionsapparaten erlaubt wird, diese Daten abzurufen. Meta-Daten geben unter anderem Auskunft darüber, wer per Telefonanruf, E-Mail, SMS oder Messenger-Nachricht mit wem von welchem Ort aus kommuniziert hat. In diesem Zusammenhang wurden mehrfach Vorratsdatenspeicherungsmodelle eingeführt und in der Folge für verfassungs- oder europarechtswidrig erklärt und wieder abgeschafft.
Der jüngste Versuch, digitale Überwachung auszubauen, ist die auf EU-Ebene von konservativen Kräften vorangetriebene Chatkontrolle. Diese sieht vor, dass nicht nur die Meta-Daten, sondern auch die Inhalte von per Messenger-Diensten wie Signal, Telegram und Whatsapp verschickten Nachrichten in Echtzeit überwacht werden sollen. Das hierzu entwickelte Gesetz wurde im Juni 2024 im Europäischen Parlament mit einem äußerst knappen Abstimmungsergebnis vorerst verhindert. Eine Wiedervorlage ist jedoch bereits angekündigt.
Im Kern geht es in dieser angedeuteten Linie von Überwachungskämpfen um die Frage, ob die staatlichen und damit polizeilichen und geheimdienstlichen Kontrollmöglichkeiten auf neue digitale Datenbestände, u.a. eben Kommunikationsdaten, ausgeweitet werden sollen. Konservative Akteure, die primär dem law-and-order-Paradigma der Inneren Sicherheit folgen, kämpfen seit Jahrzehnten unbeirrt für diese Erweiterungen.
Die Befürworter*innen einer digital erweiterten staatlichen Kontrolle verfolgen ein neues Modell repressiver Staatlichkeit im digitalen Zeitalter, das ich als digitalen Autoritarismus bezeichne.
Dieser zeichnet sich (a) durch eine massiv erweiterte Informationsgrundlage staatlichen Handelns aus, die (b) einen bis zum Beginn der Digitalisierung für undenkbar gehaltenen Durchdringungsgrad staatlicher Kontrolle in gesellschaftlichen Beziehungen begründet.
Von besonderer Bedeutung ist hier, dass der Großteil der Überwachungsleistung automatisiert erfolgt. Innerhalb staatlicher Kontrollprozesse werden Menschen tendenziell durch permanent arbeitende Maschinen bzw. eine maschinengestützte Überwachungsordnung ersetzt, von denen der Großteil der Bevölkerung (c) durch mangelnde technische Kenntnisse und intransparentes Staatshandeln auf Grund des Staatsgeheimnisses hierarchisch getrennt ist. Staatliche Überwachung ist so nicht mehr punktuell, sondern umfassend und permanent. Der Überwachungsdruck wird so radikal erhöht.
Bisher waren die grundrechtlich inspirierten Widerstände gegen diese Serie digital-autoritärer Gesetzesvorhaben jedoch relativ erfolgreich. Die VDS konnte verfassungsrechtlich mehrfach weitgehend ausgebremst werden. Die Chatkontrolle wurde über die Organisierung politischer Mehrheiten auf europäischer Ebene in letzter Sekunde gestoppt. Die konservativen Forderungen nach einer digital-autoritären Ordnung sind damit jedoch nicht vom Tisch – diese werden im Wochenrhythmus unbeirrt im öffentlichen Raum wiederholt.
In dieser Situation sind radikaldemokratische und emanzipatorische Kräfte mit drei Aufgaben konfrontiert: Sie müssen, erstens, in den politisch-juristischen Kämpfen über digitale Überwachungsmaßnahmen grundrechtliche Verteidigungslinien halten.
Sie müssen, zweitens, den autoritären Kontrollvorstellungen eine positive Vision davon entgegenhalten, wie digitalle Kommunikationstechnologien in radikaldemokratischer und emanzipatorischer Absicht eingesetzt werden können.
Und sie sollten, drittens, das Wissen und Verständnis über die kapitalistische und staatliche Generierung und Abschöpfung digitaler Daten gesellschaftlich niederschwellig und weitläufig verbreiten, um den bisher eher geringen Mündigkeitsgrad in der Bevölkerung in digitalen Fragen spürbar zu erhöhen.
Lars Bretthauer ist seit Oktober 2023 im Vorstand des Grundrechtekomitees und betreibt den Blog Systemtransformation