21. Aug. 2024 Bei der Abschlussveranstaltung vom Demokratiefest im Berliner Regierungsviertel am 26.5.2024 wird auf der Bühne vor dem Kanzleramt ein Feuerwerk gezündet. © 26.5.2024: Feuerwerk bei der Abschlussveranstaltung des Demokratiefestes aus Anlass von 75 Jahren Grundgesetz in Berlin | picture alliance/dpa | Christophe Gateau
Demokratie / Verfassung

Die Grenzen des Grundgesetzes. Grundrechte ausweiten, um sie zu verteidigen

Im Mai 2024 organisierten die deutschen Verfassungsorgane ein mehrtägiges „Demokratiefest“ in Berlin. Anlass war der 75. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Der Tenor der Veranstaltung, wie er zwischen Staatsakt und Würstchenbuden fühlbar wurde, bestand aus Stolz und Zufriedenheit: „Unser Grundgesetz hat 75 Jahre Freiheit, Frieden und Demokratie in Deutschland ermöglicht – eine Erfolgsgeschichte“. (1) Deutlich nüchterner war die Stimmung einige Tage zuvor, als zehn Bürger*innen- und Menschenrechtsorganisationen den Grundrechte-Report 2024 vorstellten, präsentiert vom ehemaligen Innenminister Gerhart Baum. Dieser warnte eindringlich vor einem Demokratieabbau: „Unsere Grundrechtsordnung ist Gefährdungen ausgesetzt, wie ich sie noch nie in meinem Leben erlebt habe.“

Die zwischen diesen Einschätzungen klaffende Lücke wirft Fragen auf. Wie ist es heute um die Grundrechte bestellt? Und wie können sie gegen drohende Gefahren verteidigt werden? Für eine Antwort reicht es nicht aus, ein rosig-goldenes Bild des Grundgesetzes zu zeichnen, in dem dieses von „extremistischen“ Kräften bedroht wird. Ein erster Schritt wäre zu verstehen, inwiefern die Grundrechte in Deutschland bereits durch die Konstruktion des Grundgesetzes eingeengt werden.

Aus einer radikaldemokratischen Perspektive zielen Grundrechte darauf, die gemeinsame Selbstbestimmung aller Gesellschaftsmitglieder zu ermöglichen. Sie sollen das gleichberechtigte Entscheiden über alle Aspekte des Zusammenlebens ermöglichen, die gemeinsame Bestimmung aller Gesellschaftsmitglieder über ihre Geschicke und ihre Geschichte. Gemessen an diesem Maßstab ist die durch das Grundgesetz etablierte Form der Grundrechte als weit ungenügend zu beurteilen. Dies lässt sich an einer ganzen Reihe von Punkten illustrieren.

Sphärentrennung

Das Grundgesetz spaltet die Gesamtgesellschaft in getrennte Bereiche, in Privatsphäre, Privatwirtschaft, bürgerliche Zivilgesellschaft und den öffentlich-staatlichen Sektor. Grundrechte sind überwiegend auf den öffentlich-staatlichen Bereich beschränkt. Der „menschenrechtlich-demokratische Anspruch“, so Wolf-Dieter Narr, Roland Roth und Klaus Vack, bleibt deshalb abstrakt: „Ökonomie und andere gesellschaftliche Strukturen entziehen sich [ihm] weitgehend.“ (2) Dass ‚die Wirtschaft‘ nicht demokratisch organisiert ist, sondern der Despotie der Kapitalbesitzer*innen unterliegt, zeigt, wie strukturell verengt demokratische Grundrechte unter diesen Bedingungen sind.

Abwehrcharakter

Die Grundrechte werden zudem durch ihre verengte Interpretation als Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe beschränkt. Sie werden kaum als ‚Aktivrechte‘ verstanden, als Rechte auf eine umfassende demokratische Selbstbestimmung. Auch deshalb bleiben sie oft deklamatorisch, als würden sie bereits dadurch Wirklichkeit, dass sie im Grundgesetz proklamiert werden. „Als könnte jemand seine ‚Würde‘ wahren (s. Art. 1 Absatz GG) wie ein vorab gegebenes festes Gut […]. Als entstehe Würde nicht erst durch die Art, wie jemand seine ‚Welt‘ verstehen, seinen Beruf ausüben, angemessen wohnen und sich an den ihn betreffenden Geschicken des Gemeinwesens beteiligen könne.“ (S. 28) Radikaldemokratische Grundrechte müssten über Abwehrcharakter und Deklamation weit hinausgehen und sowohl die Praxis als auch die materiellen Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung in Begriffe fassen.

Repräsentation

Wenn Grundrechte aus radikaldemokratischer Sicht somit die umfassende und gemeinsame Selbstbestimmung aller Gesellschaftsmitglieder absichern sollten, dann ist es tragisch, festzustellen, dass die im Grundgesetz etablierte Form der Grundrechte diesen Anspruch nicht realisiert. Stattdessen folgt sie dem Prinzip eines „repräsentativen Absolutismus“ (S. 29), in dem demokratische Beteiligung weitgehend auf die periodische Wahl von Repräsentant*innen beschränkt ist. Großen Bevölkerungsgruppen werden selbst diese begrenzten Beteiligungsrechte vorenthalten – Kindern, Jugendlichen und Menschen ohne deutschen (oder EU-europäischen) Pass. Eine tatsächliche Selbstbestimmung der Bevölkerung, etwa über direktdemokratische Abstimmungsformen, die Demokratisierung von öffentlichen Institutionen (u. a. Bildungswesen, Gesundheitssektor, Stadtplanung) sowie wirtschaftsdemokratische Elemente (z.B. radikal ausgeweitete Mitbestimmung am Arbeitsplatz, gemeinwirtschaftliche Eigentumsformen, demokratische Kontrolle von Geldpolitik und Investitionen) ist entweder gar nicht vorgesehen oder geht kaum über zahnlose Beteiligungsformate hinaus. In der Bundesrepublik stand und steht man „in Treue fest zum nach unten schottendichten ‚repräsentativen‘ Prinzip.. (S. 32f.)

Grundrechtsleere Bereiche

Selbst die kapitalistisch und repräsentativ begrenzte Form abwehrfokussierter Grundrechte bleibt in vielen gesellschaftlichen Feldern systemisch unrealisiert. Zu solchen „Einrichtungen struktureller Grund- und Menschenrechtsverletzungen“ (S. 29) gehören Haftanstalten und Psychiatrien, die gesellschaftliche Behandlung von Obdachlosen, Sozialleistungsbezieher*innen und armen Menschen sowie von Asylsuchenden und Illegalisierten, gerade wenn sie auch von Rassismus betroffen sind. Wer von den Staatsapparaten erfasst wird, die in diesen Feldern operieren, sieht sich einem verheerenden Generalverdacht ausgesetzt und wird seiner Grund- und Menschenrechte immer wieder beraubt.

Pluralismus

Die im Grundgesetz formulierten Grundrechte garantieren offenen Meinungsstreit. Lässt man jedoch die Geschichte der Bundesrepublik vor dem inneren Auge vorbeiziehen, wird deutlich, dass politische Kräfte, die Gewaltverhältnisse überwinden und die demokratische Selbstbestimmung über den liberal-kapitalistischen Rahmen hinaus ausweiten wollen, beständig ausgegrenzt wurden. Staatsschutz statt Pluralismus. Zu erinnern ist an Antikommunismus seit den Fünfzigern, Notstandsgesetze in den Sechzigern, Berufsverbote in den Siebzigern und die durch Verfassungsschutzbehörden seitdem „fortgesetzte Feinderklärung gegen soziale Bewegungen und linke Parteien“. (3) „Pluralistisch‘ hat nur eine Chance, wer sich im vorgegebenen Raum nach der vorgegebenen Decke streckt und sich in Zielen und Mitteln den vorgegebenen, verborgen inhaltsschweren Prozeduren anpasst.“ (S. 31f.)

Wie steht es also heute in Deutschland um die Grundrechte? Die Grenzen des Grundgesetzes machen deutlich, dass es bei einer ‚Verteidigung der Demokratie‘ heute nicht nur darum gehen kann, Angriffe der autoritären Rechten abzuwehren. Die Aufgabe besteht zugleich darin, die strukturell verengte Form der Grundrechte über sich selbst hinauszutreiben, als Teilelement einer sozial-ökologischen Transformation, welche die Gesellschaft und ihre materiellen Grundlagen radikal demokratisiert.


von Fabian Georgi

Anmerkungen

1 Bundesregierung 26.5.2024. URL https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/75-jahre-grundgesetz/demokratiefest-75-jahre-grundgesetz-2257858

2 Narr, Wolf-Dieter / Roth, Roland / Vack, Klaus (1993): Den eigenen Menschenrechten, nicht dem Staat gehorchen. In: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Ziviler Ungehorsam. Traditionen. Konzepte. Erfahrungen. Perspektiven. Sensbachtal, S. 21–44, hier S. 33. Alle folgenden Zitate aus diesem Text werden lediglich mit Seitenzahl belegt.

3 Narr, Wolf-Dieter (2012): Politische Polizei – Demokratie mit dynamischem Schutzzaun. In: CILIP/Bürgerrechte & Polizei, 35 (103, 3/2012), 3–10, hier S. 4. URL: https://www.cilip.de/2013/03/05/politische-polizei-demokratie-mit-dynamischem-schutzzaun/

Dieser Artikel erschien zuerst in FriedensForum, Ausgabe 5/2024. / Fabian Georgi ist Politikwissenschaftler und arbeitet als politischer Referent beim Komitee für Grundrechte und Demokratie.