Nach über drei Jahren Verhandlungen stimmte das Europäische Parlament im Mai 2024 für eine Reform des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Dieses bildet seit Anfang der 2000er Jahre den Rahmen europäischer Migrationspolitik. Bislang war sein zentraler Effekt, die Verantwortung für Asylverfahren formal an die EU-Außengrenzen zu verlagern. In diesem Zuge führte es bereits zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen und unterwarf Schutzsuchende einem teils chaotischen System von Kontrollen und Abschiebedrohungen.
Die beschlossene Reform des GEAS umfasst neun Verordnungen und eine Richtlinie, die ab Juni 2026 in Kraft treten. Welche Auswirkungen die Reform konkret haben wird, lässt sich schwer vorhersagen. Sicher scheint, dass sie die Situation von Menschen auf der Flucht noch dramatisch verschlimmern wird. Grund- und menschenrechtliche Standards werden in krasser Weise verletzt. Das System von Grenzabschottung und Kriminalisierung von Migration wird fortgeschrieben.
VERSCHÄRFUNG DES GRENZREGIMES
Die GEAS-Reform wird die restriktiven und repressiven Elemente im EU-Grenz-regime radikal zuspitzen: Menschen, die nicht im Besitz gültiger Einreise papiere sind, können künftig an den EU-Außengrenzen für ein „Screening“, das heißt primär Identitäts- und Sicherheitsüberprüfungen, bis zu sieben Tage in Gewahrsam genommen werden. Die Grenzbehörden können in diesem Zusammenhang fortan die biometrischen Daten aller Menschen ab einem Alter von sechs Jahren langfristig speichern. Zugleich soll die Verschränkung europäischer Polizeidatenbanken immens ausgeweitet werden.
Als Resultat des „Screenings“ kann nicht nur die Einreise erlaubt oder verweigert werden; Menschen, die einen Asylantrag stellen, werden direkt an der Grenze ein beschleunigtes „Grenzverfahren“ durchlaufen müssen. Dies betrifft Schutzsuchende, die von den Grenzbehörden als „Sicherheitsrisiko“ gelabelt werden, denen Identitätstäuschung vorgeworfen wird oder die eine Staatsangehörigkeit besitzen, deren „Schutzquote“ unter 20 Prozent liegt. Während des bis zu zwölf Wochen dauernden „Grenzverfahrens“ sollen die Personen Europa offiziell noch nicht betreten haben und faktisch inhaftiert werden. Bei negativer Asylentscheidung wird sich direkt ein „Rückführungsgrenzverfahren“ anschließen, das eine Inhaftierung für weitere zwölf Wochen erlaubt. In „Krisensituationen“ können die Grenzverfahren in Reich-weite und Dauer zudem drastisch aus-geweitet werden. Der Großteil der Asylverfahren soll somit weiterhin an den EU-Außengrenzen stattfinden. Dafür ist der Ausbau von Grenzlagern mit einer Kapazität von europaweit bis zu 30.000 Plätzen vorgesehen.
Inwieweit sich das neue GEAS tatsächlich auswirkt, hängt stark davon ab, wie die EU-Mitgliedstaaten die Reform umsetzen. Viele Formulierungen sind kompliziert und unbestimmt, zahlreiche repressive Regelungen sind nicht zwingend – im Resultat haben die Mitgliedstaaten bei der Anpassung im nationalen Recht weite Spielräume.
ANPASSUNGEN IN DEUTSCHLAND
Für die Anpassung des deutschen Rechts an die GEAS-Reform hatte die Ampel-Regierung im Herbst 2024 zwei Gesetzesentwürfe ausgearbeitet, die sie aufgrund der vorgezogenen
Bundestagswahl jedoch nicht mehr ins Parlament einbrachte. Die Entwürfe nutzten die repressiven Spielräume der GEAS-Reform drastisch aus: Das Konzept der „Sicheren Drittstaaten“, polizeiliche Befugnisse und freiheitsentziehende Maßnahmen sollten massiv ausgeweitet werden. Vorgesehen war etwa, Menschen während des Asylverfahrens zu inhaftieren, wenn ihnen eine „Fluchtgefahr“ unterstellt wird; auch Kinder dürfen in Haft genommen werden, „wenn“, so die Orwell’sche Begründung, „die Inhaftnahme ihrem Wohl dient“. Zugleich sollte der Zugang von unabhängiger Beratung zu Lagern und Knästen eingeschränkt werden.
Die Vorschläge der Ampel zeigen deutlich, dass die neuen GEAS-Regelungen menschenrechtliche Standards radikal unterschreiten, während wirksame Überprüfungsinstrumente fehlen. Die Gesetzentwürfe könnten von der nächsten Bundesregierung noch weiter verschärft werden. Jedoch wäre es in Anbetracht der Wahlprogramme und der offenen Kooperation von Union, FDP und AfD im Bundestag auch möglich, dass die GEAS-Reform überhaupt nicht umgesetzt wird – nicht aber aus Ablehnung der menschenfeindlichen Inhalte, sondern um durch Missachtung von EU- Recht menschenrechtliche Vorgaben noch gravierender unterschreiten und das individuelle Recht auf Asyl faktisch ganz abschaffen zu können.
In den kommenden Jahren werden daher weiterhin solidarische Netz werke und Supportstrukturen notwendig sein – nicht nur für Abwehr-kämpfe vor Gericht, sondern für die Umsetzung langfristiger Strategien für die Gewährleistung der Bewegungsfreiheit für alle.
■ Bo Winter