Die klare Positionierung für die kommunale Aufnahme von Geflüchteten im Jahr 2015 hat den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sein Leben gekostet: Er wurde im Juni 2019 durch einen Kopfschuss ermordet. Oft wird darauf hingewiesen, dies sei der erste rechte Mord an einem Politiker nach 1945. Als Mensch ist Walter Lübcke allerdings einer von mindestens 170 Personen, die laut einer Studie vom Tagesspiegel bundesweit seit 1990 durch rechte Gewalttaten ums Leben gekommen sind.
Ein Mann aus Eritrea überlebte einige Wochen später den rassistischen Mordversuch eines rechten Attentäters im hessischen Wächtersbach nur knapp. Auch hier wurde von einer Schusswaffe Gebrauch gemacht. „Der Rechtsextremismus müsse in seinen Anfängen bekämpft werden“, forderte Angela Merkel kürzlich auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund nach dem gewaltsamen Tod ihres Parteikollegen. Dazu müsste die Uhr allerdings um Jahrzehnte zurückgedreht werden. Bereits die rassistischen Anschläge und Pogrome zu Anfang der 1990er Jahre in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und anderswo wurden von der „Das Boot ist voll“-Rhetorik der damaligen Bundesregierung begleitet, wenn nicht gar mitproduziert. Im Anschluss wurden die Täter*innen mit der faktischen Abschaffung des ausnahmelosen Grundrechts auf Asyl 1993 quasi belohnt.
Heute wird die politische Verantwor-tung für das menschenverachtende, ideologische Klima, das den Mord an Walter Lübcke zweifelsohne begünstigte, allein auf die rassistische und islam-ophobe Demagogie der AfD abgewälzt,während in Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern die ersten Politiker*innen der CDU auf kommunaler Ebene eine Zusammenarbeit mit den völkischen Nationalist*innen eingehen. Gleichzeitig macht die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD mit steten Gesetzesverschärfungen in der Asyl- und Aufenthaltspolitik aus Geflüchteten Straftäter, verschärft und entgrenzt die Abschiebehaft und Innenminister Horst Seehofer hält entgegen aller Warnungen vor der prekären Sicherheitslage in Afghanistan Abschiebungen dorthin generell für vertretbar.
Die Sicherheitsbehörden nehmen den mutmaßlichen rechtsterroristischen Mord an Walter Lübcke zum Anlass, den Verfassungsschutz weiter ausbauen zu wollen und erweiterte Befugnisse wie Staatstrojaner, Online-Durchsuchung und den Zugang zu verschlüsselter Messenger-Kommunikation erneut zu legitimieren. Es waren allerdings nicht zu geringe nachrichtendienstliche Befugnisse, weshalb der Verfassungsschutz den NSU nicht aufdeckte: Dies tat der NSU im Jahr 2011 bekanntlich selbst. Trotz intensivem und jahrzehntelangem Einsatz von V-Männern in der rechtsradikalen Szene – nachweislich im Umfeld des NSU – besitzen die Sicherheitsbehörden offensichtlich nur ein sehr oberflächliches Verständnis von den Strukturen und Arbeitsweisen der extrem rechten Netzwerke oder verharmlosen sie bewusst. Nach der Selbstenttarnung des NSU tat der Verfassungsschutz sein Bestes, möglichst nichts bis wenig zur Aufklärung beitragen zu müssen. Quellenschutz vor Opferschutz ist das Mantra der Behörde.
Während das Netzwerk des NSU weiterhin nicht vollständig aufgeklärt wird, erklärt man den mutmaßlichen Mörder Walter Lübckes vorschnell zum Einzeltäter. Die bis heute angewandte juristische Definition einer „terroristischen Vereinigung“ ist zur Erfassung des rechtsterroristischen Konzepts des „führungslosen Widerstandes“ allerdings auch ungeeignet – obwohl dort bekanntlich bereits seit den 1990er Jahren Gewalttaten durch Einzelpersonen und durch kleine autonome Zellen propagiert werden. Walter Lübcke tauchte bereits auf einer Namensliste des NSU auf. Eine Todesliste mit 25.000 Namen bundesweiter „politischer Gegner“ führen auch rechtsterroristische Netzwerke wie „Nordkreuz“ und „Revolution Chemnitz“ für den „Tag X“, an dem diese Personen liquidiert werden sollten, wie seit dem Jahr 2017 bekannt ist. Damals verbreitete der AfD-Politiker Heiner Merz die Daten ebenfalls via Email und forderte zu „fantasievollen Gegenmaßnahmen“ auf. Namenslisten werden zudem in Polizeirevieren gesammelt: in Frankfurt erhielten auf den Listen genannte Personen Todesdrohungen, gezeichnet mit dem Pseudonym„NSU2.0“. Der rechte Abgrund reicht also bis in Teile der nur mangelhaft kontrollierten Sicherheitsapparate.
Es ist somit offensichtlich, dass den Sicherheitsbehörden der Kampf gegen rechts nicht überlassen werden darf. Dies ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Rassismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus müssen wir klar als solche benennen. Diese dürfen nicht als „Fremdenfeindlichkeit“ oder gar „Asylkritik“ verharmlost werden und menschenverachtende Haltungen und Reden damit nicht länger salonfähig bleiben. Die Betroffenen von rassistischer und rechter Hetze und Gewalt müssen gehört, ernst genommen und geschützt werden.