Ein Gastbeitrag von Thomas Tews
Die antimigrantischen und antimuslimischen Diskurse, die gegenwärtig unsere Migrationsdebatte dominieren, setzen – bewusst oder unbewusst – die in Kolonialismus und Orientalismus wurzelnde Konstruktion nichteuropäischer Subjekte als „die Anderen“ fort. Diese gilt es in ihrer Genese zu analysieren, um sie dekonstruieren zu können.
Geschichte
Die oft dehumanisierende Konstruktion der nichteuropäischen Kolonisierten als „die Anderen“ durch die europäischen Kolonisierenden vermag folgendes Zitat aus Fritz Behns 1915 erschienenem Buch „Haizuru. Ein Bildhauer in Afrika“ zu illustrieren:
„Nun mache ich den Leser bekannt mit einem Novum, das ich schon oberflächlich ankündigte: zugleich ein ‚es‘ und ein ‚er‘ – ein Objekt und ein Subjekt, mit dem er zu rechnen hat […]: dem Träger. Denn von jetzt ab ist er allein, allein ohne jede fühlende europäische Brust, allein mitten im ‚schwarzen Erdteil‘ mit seinen schwarzen Begleitern. […] Ich stelle ihm also hier den Msukuma-N**** vor, von den Gegenden südlich des Viktoriasees, den Träger par excellence, einen kräftigen, anatomisch gut entwickelten Menschen, bereit, während sechs Monaten eine Last zu tragen. […] Er ist ein gutmütiger Bursche, immer geneigt, bei den schwierigsten andauerndsten Märschen auf einen simplen Witz des Europäers hin seine breiten Lippen zu einem breiten Lachen zu verziehen, seine glänzend weißen Zähne zu zeigen und dann geduldig weiterzumachen. Es ist geradezu unbegreiflich, was so ein Msukuma erträgt ohne anders zu denken (falls er überhaupt denkt), als daß es so sein muß. Er schleppt seine fünfzig Pfund Last in kantiger Kiste während sechs Monate, täglich von Sonnenaufgang bis in die Nacht, wenn es nötig ist, […] er ißt täglich zufrieden und ruhevoll seine Handvoll Mtama-Brei –, wenn es sein muß, auch einen ganzen Elefanten in rohem oder gekochtem Zustand und ist auch ebenso zufrieden, wenn er einmal gar nichts bekommt.“i
Gleichzeitig wurde auf den im Berliner Reichstagsgebäude regelmäßig stattfindenden Deutschen Kolonialkongressen die Angst vor einer „Islamisierung“ der deutschen Kolonien in Afrika geschürt. So beschwörte der Missionsvertreter Julius Richter auf dem Deutschen Kolonialkongress 1905 den „grossen Kampfe zwischen Islam und Christentum um den Erdteil Afrika“ und warnte davor, „dass in dem Islam der Kulturentwicklung unserer Kolonien eine Gefahr droht“. Ein anderer Missionsvertreter, Jos Froberger, erklärte auf demselben Kongress, „dass der Islam kein Träger sittlicher Kultur ist, sondern vielmehr dieselbe hindert, zerstört und in manchen Gegenden und manchen Fällen ein Prinzip sittlicher Fäulnis ist“. Nicht nur sei der Islam „kein Kulturfaktor“, sondern auch „überall eine Kulturgefahr“. Ähnlich äußerte sich Karl Axenfeld auf dem Deutschen Kolonialkongress 1910: „Islamisierung fördert den Kulturfortschritt nicht, sie hemmt ihn, und zugleich gefährdet sie die europäische Herrschaft.“ii
Die historische Genese der in Europa „dominierenden Wahrnehmungsmuster“ bezüglich des Islams skizziert der Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit in seinem im vergangenen Jahr veröffentlichten Abschlussbericht „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz“ wie folgt:
„Wenngleich sich diese Muster im Zuge der Neuzeit und der Aufklärung auch wandelten, blieben die Wahrnehmungsweisen doch höchst ambivalent: Es entstand eine nicht minder problematische Begeisterung für den ‚Orient‘, die auf das Exotische gerichtet war […] (Stichwort Orientalismus). Damit einhergehend formte sich ein europäisches Überlegenheitsdenken aus, das Europa und den Islam als zwei gegensätzliche ‚Zivilisationen‘ zu bestimmen suchte […]. Insbesondere zur Zeit des Kolonialismus verstärkte sich dies […].“iii
Das theoretische Konzept des „Orientalismus“ geht auf Edward W. Said zurück, der mit ihm in seinem gleichnamigen, als Gründungsdokument postkolonialer Studien geltenden Buch die europäisch-westliche „Umgangsweise mit dem Orient“, welcher „fast eine europäische Erfindung“ sei, bezeichnet:
„Der Orient grenzt nicht nur an Europa, er barg auch seine größten, reichsten und ältesten Kolonien, ist die Quelle seiner Zivilisationen und Sprachen, sein kulturelles Gegenüber und eines seiner ausgeprägtesten und meistvariierten Bilder ‚des Anderen‘. Überdies hat der Orient dazu beigetragen, Europa (oder den Westen) als sein Gegenbild, seine Gegenidee, Gegenpersönlichkeit und Gegenerfahrung zu definieren.“iv
„Orientalismus“ sei eine „Denkweise, die sich auf eine ontologische und epistemologische Unterscheidung zwischen ‚dem Orient‘ und (in den meisten Fällen zumindest) ‚dem Okzident‘ stützt“ und es ermöglicht habe, „dass die europäische Kultur erstarkte und zu sich fand, indem sie sich vom Orient als einer Art Behelfs- und sogar Schattenidentität abgrenzte“v.
In einem Vorwort von 2003 betont Said, „dass der Begriff des Orients ebenso wenig wie der des Westens irgendeine ontologische Eigenständigkeit beanspruchen“ könne:
„Beide beruhen auf Konstrukten, teils auf Setzung, teils auf Identifikation des Anderen. Dass sich diese allmächtigen Fiktionen leicht in den Dienst der Manipulation und der Organisation kollektiver Leidenschaften stellen lassen, ist nie deutlicher zutage getreten als in unserer Zeit, in der die Mobilisierung von Angst, Hass, Verachtung und wiederauflebendem arrogantem Eigendünkel – oft bezogen auf den Islam und die Araber auf der einen Seite und ‚uns‘ Westler auf der anderen – sehr weite Kreise zieht.“ vi
Said spricht vom „Orient“ als „jenem fast mythischen Konstrukt, das seit Napoleons Invasion Ägyptens Ende des 18. Jahrhunderts zahllose Male geschaffen und erneuert wurde, indem sich die Macht einer zweckdienlichen Form des Wissens bediente, um zu bekräftigen, dass gerade dies die Natur des Orients sei und wir entsprechend mit ihm umgehen müssten“vii. Dabei würden heutzutage „die gleichen Klischees, die gleichen erniedrigenden Stereotype, die gleichen Rechtfertigungen für Macht und Gewalt“ benutzt, „deren sich die holländischen Eroberer Malaysias und Indonesiens, die britischen Truppen in Indien, Mesopotamien, Ägypten und Westafrika, die französischen Armeen in Indochina und Nordafrika bedient“ hätten: „Jede dieser Phasen und Epochen erzeugt ihr eigenes verzerrtes Bild der je anderen, ihre eigenen reduktionistischen Konzepte und ihre eigene streitbare Polemik.“viii
Die Dehumanisierung nichteuropäischer Menschen durch die „Konzepte und Institutionen der Kolonialität“ analysiert auch Wael B. Hallaq in seinem Buch „Orientalismus als Symptom. Eine Kritik des modernen Wissens“, wobei er eine Verbindung mit der „Denkstruktur der Aufklärung“ siehtix:
„Wie ich in diesem Buch immer wieder betonen werde, haben außereuropäische Kulturen […] in ihren Zentralgebieten Richtwerte in Ehren gehalten, die die Grenzen dessen, was getan werden kann und was nicht, absteckten. […] Damit die europäischen Siedler überhaupt in die Lage kamen, Haitianer, amerikanische Indianer oder andere so auszubeuten wie geschehen, damit sie sich diese also eher als Maschinen denn als Menschen (und so besehen als menschliche Arbeit) unterjochen, sie präzedenzloser Formen der Sklaverei und gnadenlosen Eigentumsvorstellungen unterwerfen konnten, um im Folgenden diese Experimente in ein Zwangs- und Disziplinierungssystem à la Foucault weiterzuentwickeln, damit sie all dies wieder umkehren und, mit der Absicht, ihre Schatztruhen zu füllen und sich dabei zu neuen Subjekten umzuformen […], die Welt weiter kolonisieren konnten, um schließlich, als alles andere fehlschlug, den Genozid als neue Waffe zu kultivieren – damit sie all dies tun konnten, mussten sie bereits im Besitz einer Weltsicht sein, oder sie sich gerade aneignen, in der kein derartiger Richtwert mehr bestand.“x
Welchen Anteil Kunst und Literatur an der europäischen Konstruktion „des/der Anderen“ hatten, beschreibt Bartholomäus Grill in seinem Buch „Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“:
„Rudyard Kipling und sein märchenhaftes Indien, die Maler Paul Gaugin oder Emil Nolde mit ihren Südsee-Gemälden, Giuseppe Verdis orientalistische Oper ‚Aida‘, die Reiseberichte des Aufschneiders Henry Morton Stanley, die dümmlichen Kolonialromane einer Frieda von Bülow – sie alle arbeiteten mit an jener Wahrnehmungsmatrix von der außereuropäischen Welt, die sich in den Köpfen der Europäer verfestigt hat.“xi
Vom Orientalismus in der Architektur zeugt beispielsweise das „maurische Ensemble“ der Mitte des 19. Jahrhunderts für König Wilhelm I. von Württemberg angelegten Parkanlage „Wilhelma“ in Stuttgart. Von ihm blieb die 1864 erbaute „Damaszenerhalle“ (siehe Beitragsbild) im Zweiten Weltkrieg „praktisch unversehrt und bewahrt – obwohl nur als Zugang zur Fasanerie vorgesehen – exemplarisch die opulente Ornamentik des Orients, die einst dem ganzen maurischen Ensemble zueigen war“xii.
Den – auch in Abgrenzung zum „Orient“ – konstruierten „kulturelle[n] Begriff eines Europas der Aufklärung und der Vernunft“xiii versucht Dag Nikolaus Hasse in seinem Buch „Was ist europäisch? Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen“ zu dekonstruieren:
„Inhaltlich gesehen legt dieser Begriff nahe, dass es den Geist der Aufklärung, im Sinne eines Aufrufs zu eigenständigem Vernunftgebrauch und im Sinne rationaler Modernisierungs-, Bildungs- und Säkularisierungsbewegungen außerhalb Europas nicht gab. Das aber ist historisch alles andere als überzeugend. […] Formal gesehen ist der Begriff deshalb problematisch, weil er ausgrenzt. Die Geschichte seiner Geburt in der Barock- und Aufklärungszeit hat dies deutlich gezeigt. […] Wenn Purchas und Zedler Europa als den Erdteil beschreiben, der den anderen Erdteilen in allen Faktoren überlegen ist, sind sie von kolonialer Selbstüberschätzung geblendet. Dieser kulturelle Europa-Begriff macht alle nichteuropäischen Länder zu Kulturen zweiter Klasse. […] Der aufklärerische Begriff Europas als einer Kultur von Ideen richtet […] auch innereuropäischen Schaden an. Er geht mit einer Verengung des geographischen Europa-Begriffs einher und schließt das muslimische Europa […] aus. […] Von diesem Ausgrenzungsdenken sollten wir uns nicht prägen lassen. Der Europa-Begriff muss dringend entkolonialisiert werden.“xiv
Gayatri Chakravorty Spivak schreibt in ihrem berühmten Essay „Can the Subaltern Speak“, einem Schlüsseltext postkolonialer Theorie, mit Blick auf Europa von „der beharrlichen Konstituierung des/der Anderen als Schatten des Selbst“xv:
„Zeitgenössischen französischen Intellektuellen ist es nicht möglich, sich jene Art von Macht und Begehren vorzustellen, die dem namenlosen Subjekt von Europas Anderem/r innewohnen mag. Nicht nur dass alles, was sie gelesen haben, sei es kritisch oder unkritisch, innerhalb der Debatte der Erzeugung dieses/r Anderen gefangen ist, indem es die Konstitution des Subjekts als Europa unterstützt oder kritisiert. Es geht auch darum, dass die textuellen Ingredienzien, mit denen ein solches Subjekt seinen Werdegang besetzen konnte, in der Konstitution dieses/r Anderen von Europa mit großer Sorgfalt verwischt wurden, und zwar nicht nur durch ideologische und wissenschaftliche Produktion, sondern auch durch die Institution des Rechts. […] Das klarste Beispiel für eine solche epistemische Gewalt ist das aus der Distanz orchestrierte, weitläufige und heterogene Projekt, das koloniale Subjekt als Anderes zu konstituieren.“xvi
Wie „in einer vom kolonialen Denken geprägten Wissenschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts […] der Ethnizitätsbegriff lange Zeit substanzialistisch geprägt“ war und „vermeintlich allgemeingültige geistige und körperliche Merkmale […] Mitgliedern bestimmter Gruppen zugeschrieben“ wurden, beschreibt Monika Salzbrunn in ihrem Buch „Vielfalt/Diversität“xvii.
Henrike Kohpeiß vertritt in ihrem Buch „Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität“ die These, dass „die bürgerliche Subjektivität und ihr soziales, institutionelles und intellektuelles Leben in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften […] von einer affektiven Struktur getragen“ würden, die sie „bürgerliche Kälte“ nennt und auf „die strukturellen Kontinuitäten bürgerlicher Selbstverständnisse, in die Kolonialität bis heute fest eingeschrieben“ sei, zurückführtxviii:
„Eine Genealogie dieser Kälte bringt ihr koloniales Erbe zum Vorschein. Es bricht sich Bahn in einem Subjektmodell, das immer wieder ein rationales, europäisches Selbst gegen ein irrationales, koloniales Anderes kontrastiert, auch dann, wenn es diese Gegenüberstellung kritisch zu reflektieren sucht. In diesem Abgrenzungsgeschehen zeichnet sich das rassistische Sediment weißer europäischer Gesellschaften ab. […] In dem Verhältnis von vernunftgebundenen zu vermeintlich vernunftunfähigen Subjekten wird die Totalität der ‚Kolonialität des Seins‘ fassbar.“xix
Gegenwart
Europas gegenwärtigen bürgerlichen Subjekten wirft Kohpeiß Doppelmoral und Scheinheiligkeit vor:
„Bürgerliche Moral verschreibt sich der Gleichheit aller Menschen, allerdings unter von ihr selbst erdachten und kolonial implementierten Prämissen, zu denen die Deutungshoheit darüber gehört, wer als Mensch gilt und wer nicht. […] Die Ausdifferenziertheit bürgerlicher Weltbilder hält ihre Grundannahmen darüber, wer zur Menschheit gehört und wer nicht, gut versteckt. […] Das Mittelmeer scheidet die Welt in der Gegenwart in europäische Subjekte, die mit Menschenrechten ausgestattet sind und ‚Others of Europe‘ denen diese verwehrt bleiben.“xx
Auch Wulf D. Hund und Malina Emmerink analysieren in ihrem Aufsatz „Rassismus und Kolonialismus“ heutige Ab- und Ausgrenzungspraxen, die aus der (Verdrängung der) kolonialen Vergangenheit resultieren:
„Die Loslösung des Wissens um die koloniale Vergangenheit von aktuellen Problemen ermöglicht das weitgehend unreflektierte Fortwirken kolonialer Rassismen. […] Im postkolonialen Rassismus […] wird die Bedeutung des Kolonialismus für die Ausprägung aktueller Rassismen aus öffentlichen Diskussionen ausgeklammert. Koloniale Spuren in Kultur und Alltagsdiskursen werden nicht oder kaum hinterfragt und die Ursachen globaler Ungleichheit in Verleugnung ihrer kolonialen Prägung auf lokale Faktoren fokussiert. Die damit erhergehenden Verkehrungen reichen bis zur Schuldzuschreibung an Flüchtlinge, die in ein Bedrohungsszenario der deutschen ‚Leitkultur‘ mündet.“ xxi
Dabei weisen Hund und Emmerink darauf hin, dass in den letzten Jahrzehnten unsere – von kolonialen Denkmustern geprägte – Migrationsdebatte insbesondere eine antimuslimische Ausprägung angenommen habe:
„Spätestens die Terroranschläge vom 11. September 2001 rückten den antimuslimischen Rassismus ins Zentrum des deutschen Einwanderungsdiskurses. In einer Neuauflage des kolonialen Blicks nach Osten, den Edward Said als ‚Orientalismus‘ theoretisiert hat, wird der Fiktion eines aufgeklärten und fortschrittlichen christlich-jüdischen Abendlandes ein als irrational-fanatisch und rückständig gekennzeichneter Islam gegenübergestellt. Mit der Parole ‚Der Islam hat die Aufklärung noch vor sich‘ wird aber nicht nur die Dialektik der Aufklärung verschwiegen, die gleichzeitig, etwa durch Immanuel Kant, den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit forderte und die Grundlagen des modernen Rassismus entwickelte.“xxii
Wie Said in seinem Vorwort von 2003 schreibt, ist die Grundidee seines Buches „Orientalismus“, „die Kampfgebiete mit Hilfe der humanistischen Kritik zu öffnen, längere Sequenzen von Gedanken und Analysen einzuführen, um die kurzen Ausbrüche von polemischer, denkfeindlicher Raserei zu unterbinden, die uns so sehr in Etiketten und in antagonistischen Debatten einsperren mit dem Ziel einer kriegerischen kollektiven Identität anstelle von Dialog und wechselseitigem Verständnis“. Dafür analysiert Said die Interdependenzen und verschreibt sich der Dekonstruktion des Denkens in Dichotomien und Dualismen:
„Daraus folgt, dass jedes Gebiet mit allen anderen verknüpft ist und dass nichts von dem, was in unserer Welt vor sich geht, isoliert und frei von Außeneinflüssen stattfand. Das Entmutigende daran ist allerdings: Je mehr kritische Kulturanalysen uns zeigen, dass es sich so verhält, desto weniger Einfluss scheint eine solche Auffassung zu haben, was wiederum dazu führt, dass mehr territorial reduktionistische Polarisierungen wie ‚der Islam gegen den Westen‘ die Oberhand zu gewinnen scheinen. […] Abschließend möchte ich darauf beharren, dass die entsetzlichen reduktionistischen Konflikte, die Menschen unter fälschlich vereinheitlichenden Rubriken wie ‚Amerika‘, ‚der Westen‘ oder ‚der Islam‘ zusammenrotten und kollektive Identitäten für große Zahlen von Menschen schaffen, die in Wirklichkeit sehr unterschiedlich sind, nicht so mächtig bleiben können, wie sie heute sind, und bekämpft werden müssen, um den Einfluss und die mobilisierende Kraft ihrer mörderischen Wirkung zu mindern.“xxiii
Es kommt nicht von ungefähr, dass die „Alternative für Deutschland“ (AfD) in ihrem antimigrantischen und antimuslimischen Diskurs bewusst auf den Topos „Orient“ rekurriert. So sagte beispielsweise in der „Berliner Runde“ des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September 2024 Bernd Baumann, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion: „Diese ungeheure Sozial- und Wirtschaftsmigration, millionenfach, aus Orient und Afrika, das ist das, was wir abstellen wollen.“xxiv Damit greift Baumann die in Kolonialismus und Orientalismus wurzelnde Diskursivität der Konstruktion „des/der Anderen“ auf und nutzt sie für die politische Agenda seiner Partei.
Auch Hans-Christoph Berndt, AfD-Spitzenkandidat für die Brandenburger Landtagswahl 2024, macht sich die Tradition der Konstruktion des „Orients“ und des Islams als „das Fremde“ zunutze, wenn er auf einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg an der Havel erklärt: „Es ist unsere Herzensangelegenheit, dass auch die kommenden Generationen hier ihre Heimat haben, dass sie sich nicht den Speisevorschriften und den Ehrenvorschriften und den Riten irgendwelcher hergelaufener Beduinen unterwerfen müssen.“xxv
Der antimigrantische und antimuslimische Diskurs wird jedoch nicht nur von Vertreter*innen der vom Verfassungsschutz in Teilen als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften AfD, sondern auch von Politiker*innen der „Mitte“ geführt. So forderte etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der Christlich-Sozialen Union (CSU) beim „Politischen Gillamoos-Frühschoppen“ am 2. September 2024:
„Wir müssen jetzt endlich die Migration begrenzen. Es wächst uns seit Jahren über den Kopf und zwar nicht nur logistisch. In vielen deutschen Vorstädten fühlt sich der ein oder andere gar nicht mehr daheim, ist nimmer ganz sicher, in welchem Land er eigentlich lebt, und deswegen muss sich das wieder ändern. Wir helfen gern, aber das ist unser Land, meine Damen und Herren, und unser Land muss von uns geprägt und geführt werden, liebe Freundinnen und Freunde. […] In unserem Land, meine Damen und Herren, macht jeder harte Kritik an den Kirchen, da ist auch manches berechtigt, aber bei uns wird über den eigenen Glauben so schlecht gesprochen, alle anderen Glaubensrichtungen werden in den Himmel gehoben […]. Wie soll man uns eigentlich ernstnehmen, wenn wir nicht mal unseren eigenen Glauben verteidigen, meine Damen und Herren? Wir sollten da mehr zu stehen!“xxvi
Hier konstruiert Söder einen Antagonismus zwischen einem imaginierten natio-ethno-kulturellen „Wir“, welches er mit dem christlichen Glauben assoziiert (was angesichts des Faktums, dass 43 % der Bevölkerung in Deutschland konfessionslos sindxxvii, bemerkenswert ist), und Menschen mit Migrationsgeschichte. Vor seiner Rede hatte bereits sein hessischer Ministerpräsidentenkollege und Gastredner Boris Rhein von der Christlich Demokratischen Union (CDU) Menschen bestimmter Herkunft unter Generalverdacht gestellt: „Wir haben bei der Migration ein ernsthaftes Terrorproblem. […] Hören wir doch auf, an den Symptomen herumzudoktern. […] Was wir brauchen, das ist ein Aufnahmestopp von Flüchtlingen aus Terrorregionen.“xxviii Mit dieser Äußerung evoziert Rhein die „in der abendländischen Wahrnehmung vorherrschenden Muster einer Angst vor dem Islam“xxix.
Fazit und Ausblick
Dass in unserer Migrationsdebatte nichteuropäische Subjekte zu – als potenziell gefährlich wahrgenommenen – „Anderen“ oder „Fremden“ gemacht werden, führt nicht nur zur Diskriminierung der Betroffenen, die in Gewalt münden kann, sondern auch zur Polarisierung und Spaltung unserer Gesellschaft und ist Wasser auf den Mühlen rechtspopulistischer, rechtsextremistischer und islamistischer Kräfte. Essentialistische und kulturalistische Fremdzuschreibungen, Generalisierungen, Pauschalisierungen und Stereotypisierungen führen uns nicht weiter, sondern verhindern vielmehr, dass sich Individuen – mit oder ohne Migrationsgeschichte – unvoreingenommen begegnen können.
Wenn mit Blick auf aktuelle Umfrage- und Wahlergebnisse allseits eine härtere Gangart in der deutschen Migrationspolitik gefordert wird, verkennt dies, dass der „Wähler*innenwille“, der hier exekutiert werden soll, keine moralische Kategorie bildet und eine liberale, rechtsstaatliche Demokratie keine Tyrannei der Mehrheit sein darf. In Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt es „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird die Achtung der Menschenwürde betont: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Dieser selbstdeklarierte Anspruch sollte für alle Menschen gelten, was jedoch in der Realität allzu oft nicht eingelöst wird, wie etwa der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe feststellt, wenn er über die sich heute „sowohl mitten in Europa als auch an seinen Grenzen“ befindlichen „Lager für Fremde“ schreibt: „Im Wesentlichen sind sie Orte der Internierung, Räume des Ausgrenzens, eine Methode des Abdrängens von Menschen, die man als Eindringlinge betrachtet, die ohne gültige Aufenthaltspapiere sind, was sie zu Illegalen macht, deren Würde antastbar ist.“xxx
Dass Menschen mit einem bestimmten Pass anders behandelt werden als Menschen ohne einen solchen, bemerkte bereits Bertolt Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“:
„Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“xxxi
Ausgehend von seiner Analyse der europäischen Migrationspolitik fordert Mbembe dazu auf, sich „das Unmögliche vorzustellen“: „Das Unmögliche wäre die Abschaffung aller Grenzen, was bedeutet, allen Lebewesen der Erde das unabänderliche Recht zuzusprechen, sich auf diesem Planeten überall hinbegeben zu können.“xxxii
Hier ließe sich mit Immanuel Kant argumentieren, dass „ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“xxxiii, wie er im dritten Definitivartikel seines berühmten Entwurfes „Zum ewigen Frieden“ von 1795 schreibt. Die Bedeutung dieser Aussage unterstreicht Donatella Di Cesare in ihrem Buch „Philosophie der Migration“: „Das ist eine ganz entscheidende Feststellung, die eine geschlossene Linie im politischen Denken von Bodin zu Rousseau aufbricht, welche darauf ausgerichtet ist, den unauflösbaren Zusammenhang von Souveränität und Eigentum zu festigen.“xxxiv
Wenn prinzipiell kein Mensch mehr Anrecht auf einen bestimmten Aufenthaltsort als ein anderer besitzt, mit welchem Recht lassen sich dann Migrant*innen ausgrenzen?
Der Autor Thomas Tews ist Mitglied des Grundrechtekomitees, Kulturwissenschaftler und Lehrer in einer Vorbereitungsklasse für geflüchtete und migrantische Kinder. Das Ziel, „eine Welt zu schaffen, in der das Leben aller Menschen schöner, länger, besser, leidensfreier würde“, wie es Max Horkheimer formulierte, bildet den Ausgangspunkt seines politischen Engagements.
Literatur
Behn 1915: Fritz Behn, Haizuru. Ein Bildhauer in Afrika. G. Müller, München 1915.
Benbrahim et al. 2023: Karima Benbrahim/Saba-Nur Cheema/Yasemin El-Menouar/Karim Fereidooni/Kai Hafez/Özcan Karadeniz/Anja Middelbeck-Varwick/Mathias Rohe/Christine Schirrmacher, Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz. Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit. Bundesministerium des Innern und für Heimat, Berlin 2023.
Brecht 2000: Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche. Erweiterte Ausgabe. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000.
Di Cesare 2021: Donatella Di Cesare, Philosophie der Migration. Aus dem Italienischen von Daniel Creutz. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2021.
Grill 2021: Bartholomäus Grill, Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Pantheon, München 2021.
Hallaq 2022: Wael B. Hallaq, Orientalismus als Symptom. Eine Kritik des modernen Wissens. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk Höfer. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2022.
Hasse 2021: Dag Nikolaus Hasse, Was ist europäisch? Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen. Reclam, Ditzingen 2021.
Hund/Emmerink 2021: Wulf D. Hund/Malina Emmerink, Rassismus und Kolonialismus. In: Marianne Bechhaus-Gerst/Joachim Zeller (Hrsg.), Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Metropol, Berlin 2021, S. 269–297.
Kant 1977: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders., Werkausgabe. Band 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 191–251.
Keskinkılıç 2019: Ozan Zakariya Keskinkılıç, Die Islamdebatte gehört zu Deutschland. Rechtspopulismus und antimuslimischer Rassismus im (post-)kolonialen Kontext. AphorismA, Berlin 2019.
Kölpin/Schäfer/Sonnenfroh 2019: Thomas Kölpin (Hrsg.)/Björn Schäfer/Micha Sonnenfroh, Wilhelma. Gewächshäuser, Naturräume und Parkanlage. Mit Fotografien von Luca Siermann. Eugen Ulmer, Stuttgart 2019.
Kohpeiß 2023: Henrike Kohpeiß, Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität. Philosophie & Kritik, Band 2. Campus, Frankfurt am Main/New York 2023.
Mbembe 2018: Achille Mbembe, Die große Vergrenzung, taz, 14.7.2018, https://taz.de/Sicherheit-und-Migration/!5517629/ [11.09.2024].
Said 2009: Edward W. Said, Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. S. Fischer, Frankfurt am Main 2009.
Salzbrunn 2014: Monika Salzbrunn, Vielfalt/Diversität. transcript, Bielefeld 2014.
Spivak 2008: Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl. Turia + Kant, Wien/Berlin 2008.
Wunder/Erichsen-Wendt/Jacobi 2023: Edgar Wunder/Friederike Erichsen-Wendt/Christopher Jacobi, Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Herausgegeben von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023.
i Behn 1915: 32 f.
ii Zitiert nach Keskinkılıç 2019: 37 f.
iii Benbrahim et al. 2023: 31.
iv Said 2009: 9 f.
v Said 2009: 11 f.
vi Said 2009: 406.
vii Said 2009: 407.
viii Said 2009: 410; 412.
ix Hallaq 2022: 35.
x Hallaq 2022: 36.
xi Grill 2021: 263 f.
xii Kölpin/Schäfer/Sonnenfroh 2019: 6 f.
xiii Hasse 2021: 25.
xiv Hasse 2021: 25–27; 29.
xv Spivak 2008: 41.
xvi Spivak 2008: 40; 42.
xvii Salzbrunn 2014: 47.
xviii Kohpeiß 2023: 10 f.
xix Kohpeiß 2023: 10; 26.
xx Kohpeiß 2023: 12; 24.
xxi Hund/Emmerink 2021: 292.
xxii Hund/Emmerink 2021: 295 f.
xxiii Said 2009: 412; 418.
xxiv Berliner Runde: Wahl in Sachsen und Thüringen, https://www.zdf.de/berliner-runde-wahl-in-sachsen-und-thueringen-100.html [05.09.2024].
xxv Kontraste vom 05.09.2024, https://www.ardmediathek.de/video/kontraste/kontraste-vom-05-09-2024/rbb-fernsehen/Y3JpZDovL3JiYl80YmU3ODlkNS0yZmY1LTQ0YWYtYTA3YS1hNTY3MTc0YTA2YzJfcHVibGljYXRpb24 [06.09.2024].
xxvi Politischer Gillamoos-Frühschoppen mit Dr. Markus Söder und Boris Rhein, https://www.youtube.com/live/GNLh0VtEIgw?si=Ja91eDv7huhmn6wm [08.09.2024].
xxvii Wunder/Erichsen-Wendt/Jacobi 2023: 8 Abb. 1.1.
xxviii Politischer Gillamoos-Frühschoppen mit Dr. Markus Söder und Boris Rhein, https://www.youtube.com/live/GNLh0VtEIgw?si=Ja91eDv7huhmn6wm [08.09.2024].
xxix Benbrahim et al. 2023: 31.
xxx Mbembe 2018.
xxxi Brecht 2000: 7.
xxxii Mbembe 2018.
xxxiii Kant 1977: 214.
xxxiv Di Cesare 2021: 79.