05. Aug. 2019 © dpa
(Anti-)Rassismus / Europa / Flucht / Rechtsstaatlichkeit / Seenotrettung

Das Recht auf Leben zerschellt an den Grenzen der Festung Europa

Laut Artikel 3 der Charta der Menschenrechte steht jedem Menschen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person zu. Für die Gestrandeten und Flüchtenden in Libyen gilt das aus Sicht der EU allerdings nicht gleichermaßen. Die jüngsten Blockaden von Schiffen derzivilen Seenotrettung vor den Häfen Europas sowie die Kriminalisierung der Crews, darunter der Kapitänin Carola Rackete, demonstrieren die realen Machtverhältnisse auf dem zentralen Mittelmeer in aller Brutalität.

Die EU-Staaten entscheiden über die Aufnahme der Geretteten auf den Schiffen der zivilen Rettungsflotte stets von Fall zu Fall, eilig haben sie es dabei gewöhnlich nicht. Die Einigung zwischen Deutschland und weiteren EU-Staaten über die Aufteilung der 40 Überlebenden auf der Sea Watch erfolgte erst nach drei erschöpfenden Wochen. Doch nur ein Bruchteil derjenigen, die aus den libyschen Gewaltverhältnissen fliehen, wird von der zivilen Seenotrettung aufgegriffen. Die weitaus meisten werden auf dem Weg nach oder in Libyen selbst festgehalten und dies mit aktiver Hilfe der EU: Mit Geldern für „Entwicklungshilfe“ werden afrikanische Anrainerstaaten Libyens erpresst, aktiv die EU-Grenzvorverlagerung vor Ort militärisch durchzusetzen.

Auf libyschem Territorium und auf dem Mittelmeer ist das Werkzeug der EU die sogenannte libysche Küstenwache, die zusammen mit Polizei und Milizen die Flucht gewaltsam unterbindet und die Menschen in die Hölle des Bürgerkrieges und Folterlager zurückschafft. Bis Mitte Juli dieses Jahres erlitten 3.959 Menschen dieses Schicksal. Nach offiziellen Zahlen ertranken 2019 bislang über 400 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer mit seeuntauglichen Booten zwischen Libyen und Europa zu überqueren. Selbst wenn die Menschen in internationalen Gewässern in Seenot geraten und von den Militärschiffen und Flugzeugender EU gesichtet werden, initiieren diese jedoch keine Rettungsaktion, sondern verbleiben in Warteposition, bis ein Schiff der libyschen Küstenwache die Menschen aufgreift.

Stellen wir uns einmal vor, Europäer*innen würden mehrere Tage in einem einfachen Schlauchboot auf dem Meer treiben, an Bord befinden sich auch Frauen, darunter vielleicht Schwangere, Kinder und Kranke. Das Boot ist überfüllt; die Menschen seit Tagen unter-wegs, dehydriert und hungrig. Sie waren nachts bei völliger Dunkelheit auf dem Meer unterwegs, haben vielleicht bereits das Sterben von Mitpassagieren oder Panikattacken auf der Überfahrt erlebt. Hinter ihnen liegen zudem die traumatischen Erfahrungen der Flucht und der Gefangenschaft in Libyens Folterverliesen. Für Menschen mit einem EU-Pass würde die Situation als dringender Notfall eingestuft und die notwendige Seenotrettung in Minutenschnelle veranlasst. Es würden sofort Ärzt*innen und Psycholog*innen aktiviert, um die Menschen zu versorgen. Für die Fliehenden aus Libyen gilt dies alles nicht: Hier wird regelmäßig eine Notlage angezweifelt, ihre Ausschiffung zurück nach Libyen oder Tunesien durchgeführt oder zumindest angewiesen, obwohl in dem einen Land ein mörderischer Bürgerkrieg herrscht und im anderen kein Asylrecht existiert.