Mit der Einführung der Kontaktsperren aufgrund der Coronapandemie wurde die Versammlungsfreiheit in fast allen Bundesländern faktisch suspendiert. Selbst Kleinstkundgebungen, die mit wenigen Teilnehmenden und Infekstionsschutzmaßnahmen durchgeführt werden, werden seit Ende März nahezu ausnahmslos verboten. Die Polizei, der die Aufgabe zukommt, die Verbote durchzusetzen, schlägt gemäß zahlreicher Augenzeug*innen- und Presseberichte dabei häufiger über die Stränge und legt die Coronaverordnungen maximal repressiv aus. So wurden selbst öffentliche Meinungskundgebungen von Einzelpersonen oder aufgehängte Transparente mit politischen Äußerungen nicht geduldet. Einen besonders schweren Fall der Einschränkung der freien Meinungsäußerung am 11. April 2020 in Lüchow dokumentieren wir, indem wir die Pressemitteilung des Bündnisses „Yes we care! Sorgearbeit radikal aufwerten – Gewinnorientierung der Daseinsvorsorge beenden“ veröffentlichen.
Pressemitteilung, 14.4.2020:
Wendländische Behörden untergraben Grundrechte - Vorgehen der Polizei führt zu Fassungslosigkeit
Die Szenen, die sich an diesem Ostersamstag, dem 11. April 2020 in der Innenstadt von Lüchow abspielen, sorgen bei vielen Passant*innen und Einkaufenden für Fassungslosigkeit: Da werden wieder und wieder einzelne Personen abgeführt, weil sie beispielsweise ein Oberteil mit einem Text tragen, der dem Landkreis und seiner Polizei „zu politisch“ erscheinen.
„Das Handeln der Polizei und die Interpretation, dass politisch wirkende Aufschriften auf Stoffbeuteln oder T-Shirts ein Grund sind, Ordnungswidrigkeiten und Straftaten anzudrohen ist unverhältnismäßig, überzogen und widerspricht den allgemeinen Menschenrechten“, so Rosa Kehr vom Bündnis „Yes we care! Sorgearbeit radikal aufwerten – Gewinnorientierung der Daseinsvorsorge beenden“. Das Bündnis hatte für den Ostersamstag zu dezentralen Protest-Aktionen im Raum Lüchow aufgerufen. „Es muss auch in Zeiten von Corona möglich sein, sich im öffentlichen Raum politisch zu äußern, wie beispielsweise vergangene Woche in Münster gegen die Urantransporte.“
Der ganze Marktplatz ist von den Einsatzfahrzeugen einer Hundertschaft umstellt. Alle Zugänge zum Marktplatz werden von zahlreichen Einsatzkräften streng kontrolliert. In einer Seitengasse werden einzelne Personen, die sich unter Einhaltung des Abstandsgebots mit einer politischen Botschaft auf den Marktplatz gestellt oder gesetzt haben, abgefertigt: ihre Personalien werden festgestellt, sie erhalten Belehrungen und es werden Platzverweise für das gesamte Stadtgebiet Lüchow erteilt. „Es ist deutlich geworden, dass die Unterbindung der politischen Meinungsäußerung das Ziel des polizeilichen Vorgehens war – nicht der Schutz der Menschen“, sagt Rosa Kehr.
Die Begründungen lauten immer wieder gleich: Sie seien Teil einer „verbotenen dezentralen Versammlung“ oder sie würden gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen. Wie es möglich ist als einzeln stehende Person Teil einer Versammlung zu sein, oder warum man gegen das Infektionsschutzgesetz verstößt, wenn man den Mindestabstand einhält und einen Mundschutz trägt, wird dabei nicht deutlich. Zahlreiche Einkaufende tragen hingegen keinen Mundschutz und werden nicht einmal von den Beamt*innen beachtet. Eine Frau, die an ihrem Marktstand steht sieht sich genötigt, die Polizeibeamt*innen immer wieder darum zu bitten, den Mindestabstand zu ihren Kund*innen einzuhalten.
Ein Jugendlicher wird aufgehalten, als er den Marktplatz verlassen will. Er trägt ein T-Shirt mit einer Wendland-Sonne und erklärt den Beamt*innen, dass er immer so aussehe. Dennoch wollen sie ihn nicht gehen lassen, auch dann nicht, als mehrere Passant*innen, die die Situation zufällig mitbekommen erklären, dass sie das Verhalten der Polizei unangemessen finden. Erst nach weiteren Diskussionen, bei denen die Beamt*innen mehrfach den Mindestabstand durchbrechen, und erneute lauteren Einschreiten einer Passantin darf er passieren.
Auch jenseits des Marktplatzes spielen sich besorgniserregende Szenen ab: Zwei Personen, die mit ihrem Einkäufen auf einer Bank sitzen, werden von mehreren Polizeibeamt*innen umringt und bezichtigt eine Straftat/Ordnungswidrigkeit begangen zu haben. Sie haben keine Plakate oder Transparente dabei, es reicht scheinbar, dass sie auf Grund ihrer Kleidung politisch wirken. Viele der Teilnehmenden an der dezentralen Aktion machen sich stark für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Bereichen Pflege, Gesundheit und Erziehung. Aber auch die katastrophale Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln ist nach wie vor Thema! Einige fordern, dass das regionale Krankenhaus wieder vom Landkreis betrieben werden solle. „Während der Pflegenotstand Alten- und Krankenpfleger*innen insbesondere in Zeiten von Corona unter nicht zu verantwortbaren Stress setzt, sitzen 10.000. Geflüchtete weiterhin in überfüllten Lagern an der EU-Außengrenze fest – dies ist ein Skandal und muss sofort beendet werden“, fordert Rosa Kehr.
Doch das Vorgehen der Polizei veranlasst viele auch dazu, sich gegen die Beschneidung ihrer Grundrechte zu wehren. „Wir gehen davon aus, dass das Vorgehen der Behörden und der Polizei verfassungswidrig ist“, sagt Rosa Kehr, „doch um die Rechtmäßigkeit festzustellen, müsste ein gerichtliches Verfahren eingeleitet werden. Das Ergebnis einer solchen rechtlichen Untersuchung abzuwarten, würde bedeuten für viele Monate nicht in der Lage zu sein, dass im Grundgesetz fest verankerte Recht auf politische Meinungsäußerung wahrzunehmen.“
„Wir beobachten, dass unter dem Deckmantel des Infektionsschutzgesetzes Grundrechte außer Kraft gesetzt werden“, stellt Rosa Kehr fest. „Und wir fordern alle Bürgerinnen und Bürger dazu auf, entschlossen und kreativ Widerstand zu leisten. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass diejenigen, die das Gesundheitssystem in den vergangenen Jahren auf ein absolutes Minimum zusammen gespart haben, um die Profite zu erhöhen, die selben sind, die in Not geratene Menschen an den Außengrenzen der EU in Lagern zusammenpferchen und Geflüchtete auf dem Mittelmeer sterben lassen“, erläutert Rosa Kehr. „Es ist jetzt an der Zeit, die Profitorientierung der Daseinsvorsorge zu beenden und gleichzeitig Solidarität praktisch werden zu lassen, und alle Lager auf den griechischen Inseln und der EU-Außengrenzen zu evakuieren und in aufnahmebereite Länder und Kommunen unterzubringen.“
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