Es klingt wie eine von vielen Geschichten dieser Tage: In einem Neuköllner Wohnblock sind viele Menschen am Coronavirus erkrankt. Der Block steht unter Quarantäne. Wäre da nicht der eine Satz, der so oder so in den meisten Berichten vorkommt:
"Was sie gemeinsam haben: einen hohen Anteil rumänischer Bewohner", schreibt Bild.
"Dort leben überwiegend Roma-Familien", schreibt die Lokalzeitung Morgenpost.
"Viele der Infizierten (...) haben einen rumänischen Hintergrund", schreibt der Tagesspiegel.
Ist es wichtig, welche Ethnie ein Corona-Infizierter hat? Eher nicht. Trotzdem ist Neukölln nicht der erste Fall dieser Art. Auch in Hagen, Göttingen und Magdeburg hat es Corona-Infektionen in Wohnhäusern gegeben, in denen viele Roma-Familien wohnen. Immer wieder ist die Rede von Großfamilien, immer wieder ist die Herkunft ein Thema. Oft, sogar im Spiegel, ist das Wohnhaus in Neukölln zu sehen. In einer Bilddatenbank findet sich sogar ein Foto der Klingelschilder, auf dem die Namen der Bewohnerinnen und Bewohner klar zu erkennen sind. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma warnte davor, dass in Europa "Roma erneut als Sündenböcke von Nationalisten und Rassisten mißbraucht werden".
Wir [Anm.: "Wir" ist hier die VICE-Redaktion] haben mit Guillermo Ruiz gesprochen. Für den Zentralrat untersucht er derzeit, wie vor allem arme und benachteiligte Roma Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt sind. Er hat mit Beratungsstellen und Sinti- und Roma-Organisationen in sieben deutschen Städten gesprochen.
VICE: Göttingen, Magdeburg, Berlin – in vielen Städten lösten Corona-Fälle in Roma-Familien Debatten aus. Warum?
Guillermo Ruiz: Der erste Fall dieser Art war in Hagen bereits im April. Da wurde, wie in Göttingen und Berlin, ein ganzes Haus unter Quarantäne gestellt.
Wo lag das Problem?
In Hagen war es die schlechte Kommunikation. Die Bewohnerinnen und Bewohner wussten nicht, worum es geht, warum sie unter Quarantäne gestellt werden müssen. Sie haben sich gewehrt. Dann mussten Ordnungsamt und Polizei kommen. Zwei Bewohner sind daraufhin geflohen.
Sie wollten sich nicht an die Maßnahmen halten?
Nein, die wollten zur Arbeit. Sie hatten Angst, ihre Jobs zu verlieren. Damit wäre auch ihr Recht auf Freizügigkeit gefährdet und dadurch ihre Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Eine ganze Kette.
Was ist passiert?
Dann haben das Quartiersmanagement und das Interkulturelle Zentrum der Stadt Hagen interveniert, vermittelt und innerhalb weniger Tage war das Problem gelöst. Sie haben auch Lebensmittel zur Verfügung gestellt.
Das ging also gut. Aber wie bewerten Sie die anderen Fälle in Göttingen und derzeit in Berlin?
In Göttingen wurde in der Pressemitteilung der Stadt über "Großfamilien" geschrieben sowie über ein "Ramadanfest". Man hat aufgrund nicht bestätigter Informationen eine Minderheit stigmatisiert. Der Mangel an Sensibilität war enorm. Dadurch stiftet eine Behörde Antiziganismus und Islamfeindlichkeit. In den ersten Wochen der Coronakrise kannten wir das nur aus den Nachrichten aus Bulgarien und der Türkei: die harten Maßnahmen und Schuldzuschreibungen gegen Roma. Jetzt mit Göttingen, Magdeburg und Berlin wird auch bei uns Schuld auf die Roma geschoben.
Hat Sie das überrascht?
Wir führen seit sieben Jahren Interviews mit Behörden und stellen immer wieder solche Ressentiments fest. Auch bei Politikerinnen und Politikern fast aller Couleur, außer den Linken. Ich würde nicht sagen, dass alle Rassisten sind. Viele von ihnen sind einfach nicht aufgeklärt und sensibilisiert für Rassismus. Aber das verstärkt natürlich trotzdem die Situation für die Betroffenen.
Welche Vorurteile gibt es da?
Dieselben wie im Rest der Bevölkerung: dass diese Menschen die Werte einer vermeintlichen deutschen Kultur nicht teilen, aber den Wohlfahrtsstaat ausnutzen.
In Göttingen gab es eine Stellungnahme der Hausbewohner. Warum hört man von den Betroffenen so wenig?
Die Roma-Familien funktionieren in der Berichterstattung gut als Sündenböcke. Mit diesen Klischees werden bestimmte Klientele bedient und gleichzeitig Nachrichten schmackhafter gemacht. Ich wage es, da Rassismus zu unterstellen.
In Göttingen waren Bewohner des Blocks auch wütend über die Berichterstattung. Es sollen Eier und Tomaten geflogen sein.
Ja, dort kam wohl ein Kamerateam und die Hausbewohner haben ihre Sicht der Dinge dargestellt. Im Beitrag wurden sie aber rausgeschnitten. Manche Bewohner wurden dann wütend und haben das nächste Kamerateam mit Müll beworfen. Und die Berichterstattung kann auch wieder zu Diskriminierung führen.
Wie meinen Sie das?
In Castrop-Rauxel gab es während der Kontaktbeschränkungen eine Beerdigung. Eine hoch angesehene Person in der Sinti-Gemeinde war gestorben. Zur Beerdigung kamen viele Trauergäste, über 200. Sie haben Abstand gehalten, Ordnungsamt und Polizei waren anwesend und alles lief gut. Im Nachhinein wurde in einer Lokalzeitung und sozialen Medien gehetzt: Sinti aus ganz Europa seien gekommen, 500 Gäste. Dabei hat das alles nicht gestimmt. Zwei Wochen später gab es einen zweiten Todesfall. Anstatt nochmals das Gespräch mit der Familie zu suchen, hat das Ordnungsamt die Zahl der Trauergäste auf 20 reduziert und Tickets ausgegeben. Das zeigt, wie diese Hetze auf öffentliche Entscheidungsträger wirken kann. Das finde ich sehr gefährlich.
Und nun der Fall in Neukölln: Der Gesundheitsstadtrat Falko Liecke sagte über das Haus, die Quarantäne durchzusetzen, sei eine der größten Herausforderungen.
Das ist öffentliche Stigmatisierung einer Gemeinschaft, die für die Verbreitung von Corona verantwortlich gemacht wird. Ich war am Freitag in Berlin-Mitte und die Kneipen waren proppenvoll. Da habe ich mich gefragt: Warum liegt jetzt der Fokus auf Roma und Geflüchteten – statt Bars und Gutverdienern? Auch in Osteuropa wird gerade gegen Sinti und Roma Stimmung gemacht. In Bulgarien, Rumänien und vor allem in der Slowakei gab es Massentests in Roma-Siedlungen. Das zeigt, wie die Krise genutzt wird, um Ressentiments zu fördern.
Sind das ähnliche Stereotype wie bei uns?
Nicht so krass. Unter den Rechtsextremen, der AfD und in sozialen Medien sind die Narrative dieselben, aber nicht im Mainstream. Ganz so weit sind wir noch nicht. Es gibt keinen Grund, die Zugehörigkeit zu einer Minderheit öffentlich zu benennen. Da sehe ich keinen öffentlichen Belang. Der Neuköllner Bürgermeister hatte behauptet, es würden keine Straßen genannt werden, und trotzdem steht die Adresse überall. Sogar Bilder des Hauses werden gezeigt.
Wie äußert sich Antiziganismus in der Coronakrise noch?
Wir müssen natürlich auch über die strukturelle Diskriminierung sprechen, unter der viele benachteiligte Roma leiden. Viele dieser Roma-Familien sind obdachlos und wohnen in Gemeinschaftsunterkünften in sehr engen kleinen Räumen. Da ist es unmöglich, den entsprechenden Abstand voneinander zu halten. Viele der Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und Fleischindustrie sind Roma. Das ist bekannt. Einige sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt, weil sie ihre Jobs verloren haben. Obwohl öffentlich gesagt wurde, die Verfahren in den Jobcentern würden erleichtert werden, haben wir von anderen Fällen gehört. In Rumänien und Bulgarien geht es um die Existenzgrundlage. In Deutschland können sie immerhin zur Tafel gehen.
Viele Roma-Familien kamen – ebenso wie andere benachteiligte Familien – mit dem Homeschooling nicht gut klar. Viele haben keinen Laptop, kein Internet und auf dem Handy nicht genügend Datenvolumen. Und oft fehlen die Deutschkenntnisse, um die Kinder zu unterstützen. Da muss ich aber betonen: Das traf die Armen. Es gibt natürlich auch Roma- und Sinti-Familien, die nicht verarmt sind. Beide haben etwas gemeinsam: die Erfahrung von Antiziganismus.
Guillermo Ruiz ist seit Ende 2019 im Vorstand des Grundrechtekomitees. Er gründete mit anderen zusammen den Verein Sozialfabrik e.V., der zur Bekämpfung von Antiziganismus forscht und politische Bildungsarbeit zum Empowerment von Geflüchteten und Migrant_innen macht.
Das Interview mit Guillermo Ruiz erschien am 17. Juni 2020 auf Vice