Lieber Mohamed Amjahid, Sie sind einer von wenigen Journalist*innen, die sich kritisch mit dem polizeilichen Konzept der sogenannten Clan-Kriminalität beschäftigt haben. Was hat Sie dazu veranlasst, sich des Themas anzunehmen? Und warum gibt es nicht deutlich mehr kritische journalistische Auseinandersetzung damit?
Guter Journalismus muss staatskritisch sein. Zahlen und Statistiken von Behörden und Politik müssen hinterfragt werden. Das haben in der Vergangenheit leider nur wenige Kolleg*innen getan. Weil viele Journalist*innen gar nicht sehen, dass es hier Missstände gibt. Ich habe erst vor wenigen Jahren mit der kritischen Betrachtung der Polizeiarbeit in Deutschland begonnen und wurde von einigen Kolleg*innen deswegen schief angeguckt. Obwohl es auf der Hand lag, dass es gründliche Recherchen braucht: Die unzähligen Berichte von Betroffenen, die überzogene „Law and Order“- Rhetorik der Innenminister oder der Umgang der Behörden mit dem Thema Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie durch die Recherche gewonnen haben?
Es existieren in deutschen Polizeibehörden Strukturen, die eine einseitige Betrachtung des Themas Sicherheit begünstigen. In einigen Bundesländern mischen sich rechte politische Ideologien mit diesen Strukturen und plötzlich reicht es, wenn man die „falsche“ Herkunft oder den „falschen“ Nachnamen trägt, um als sogenanntes Clan-Mitglied zu gelten. Diese Sichtweise kann man gut an internen Dokumenten und Methoden der Statistikerhebung ablesen. Gibt es organisierte Kriminalität in allen Bereichen der Gesellschaft? Ja. Bedeutet es, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe geschlossen kriminell agiert? Nein. Die Kulturalisierung von Kriminalität führt dazu, dass die Polizeiarbeit von einem starken rassistischen Bias beeinflusst wird. Eine weitere schlechte Nachricht: Das ist nicht im Sinne unserer Sicherheit, weil dadurch andere Formen von Kriminalität übersehen werden.
Welche Auswirkungen hat das auf die betroffenen Personen und Familien?
Menschen verlieren ihre Jobs. Müssen mit ihren Kleinunternehmen Insolvenz anmelden. Kinder werden in Schulen stigmatisiert. Unschuldige Bürger*innen werden in Behörden diskriminiert oder sie bekommen keine Wohnungen. Sie werden in einigen Medien in der Dauerschleife anders gemacht. Diese Kampagnen zerstören Existenzen. Das muss aufhören. Und es endet manchmal tödlich: Der Attentäter von Hanau hat sich nicht einfach so Shisha-Bars als Ziele für seinen Terror ausgesucht. Wenn jeden Tag in dramatisierten Reportagen, in den Parlamenten und auf Sozialen Medien diese Orte pauschal als „gefährlich“ gebrandmarkt werden, bringt das einige Radikalisierte auf gefährliche Gedanken. Neun junge Menschen mussten dies in Hanau mit dem Leben bezahlen.
Wie waren die Reaktionen auf Ihre Recherchen?
Nach meinen Recherchen in Niedersachsen hat SPD-Innenminister Boris Pistorius eine Pressekonferenz gehalten, in der er beschwichtigte und nicht wirklich auf die Ergebnisse meiner Recherche einging. Ich konnte leider nicht vor Ort sein und war geschockt, dass – mit einer Ausnahme – keine*r der anwesenden Kolleg*innen kritisch nachgefragt hat. In Berlin sagte SPD-Innensenator Andreas Geisel, er halte die Recherche-Ergebnisse (die stichfest und überprüft sind) für „sehr weit hergeholt“. Die Polizei handle nicht rassistisch, sondern gehe gegen Kriminalität vor. So viel Realitätsverweigerung ist schon bemerkenswert. Vor allem mit Blick auf die unzähligen Polizeiskandale, die in den vergangenen Monaten zum Glück dann doch durch engagierten Journalismus ans Licht gekommen sind.
Welche Leerstellen gibt es im Diskurs?
Es braucht definitiv mehr investigativen Journalismus, der sich auf die Situation in den Sicherheitsbehörden konzentriert. Nur so kommen Missstände überhaupt ans Licht. Es wäre auch wichtig, den Betroffenen von Polizeigewalt und -willkür zuzuhören. Als Journalist ist es meine Aufgabe, all die Anschuldigungen zu überprüfen. Weil es aber die erwähnten Strukturen gibt, braucht es politisch betrachtet Lösungen und das geht nur mit den Betroffenen zusammen.
Was wünschen Sie sich von Organisationen wie dem Grundrechtekomitee und von der breiteren Zivilgesellschaft?
Eine noch deutlichere Positionierung gegenüber den politischen Entscheidungsträger* innen, die das Polizeiproblem einfach nicht erkennen wollen.
Mohamed Amjahid ist Journalist, Buchautor, Moderator und Kurator. Seine Schwerpunktthemen sind u. a. Menschenrechte, Soziale Bewegungen, Außen- und Sicherheitspolitik und (Anti-)Rassismus. Am 1. März 2021 erschien sein zweites Buch „Der weiße Fleck – Eine Anleitung zu antirassistischem Denken“.
Das Interview führte Michèle Winkler
Wir planen eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Clan-Kriminalität“. Nähere Informationen demnächst auf unserer Homepage.