Ein Kommentar von Wolfgang Völker
Immer wieder wird in diversen Öffentlichkeiten betont, wie gut sich der deutsche Arbeitsmarkt in jüngster Zeit entwickelt habe. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze ist in den letzten Jahren wieder gestiegen, sodass manche sogar von einem „deutschen Beschäftigungswunder“ gesprochen haben. In dieser Euphorie bleibt regelmäßig unausgesprochen, dass die Beschäftigungszunahme wesentlich einer Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse (v.a. Befristungen und niedrige Entlohnung) zu verdanken ist und dass langfristig erwerbslose Menschen über dieses Wunder nur staunen können – denn das Wunder geht an ihnen vorbei. Über 900 000 Menschen waren 2017 länger als ein Jahr erwerbslos. Über 600 000 davon sind über fünf Jahre arbeitslos.
Nun ist die Bundesregierung dabei, ein so genanntes Teilhabechancengesetz auf den Weg zu bringen, das zum Ziel hat, mit öffentlichen Mitteln innerhalb der nächsten Jahre für 150 000 Menschen befristet Arbeit zu beschaffen. Vorgesehen sind zwei neue Regelinstrumente der Arbeitsförderung im Sozialgesetzbuch II, das landläufig als „Hartz IV“ bekannt ist. Die Förderung besteht zum einen aus einem Lohnkostenzuschuss an gewerbliche, gemeinnützige und öffentliche Arbeitgeber, die Langzeiterwerbslose einstellen. Zum anderen gehört zur Förderung auch die Finanzierung eines zeitlich befristeten, aber verpflichtenden Coachings der geförderten Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen. Es soll zwei Instrumente für unterschiedliche Zielgruppen geben. Einmal für Personen, die zwei Jahre erwerbslos waren, zum anderen für Personen, die in den letzten acht Jahren mindestens sieben Jahre Leistungen des SGB II bezogen haben und in dieser Zeit nicht oder nur kurz sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Für die erste Gruppe soll es zwei Jahre Lohnkostenzuschuss auf das regelmäßig gezahlte Arbeitsentgelt, das den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten darf, geben (ein Jahr 75%, ein Jahr 50%). Es wird ein Arbeitsvertrag geschlossen und der Einbezug in die Sozialversicherung schließt die Arbeitslosenversicherung aus. Für die zweite Gruppe soll es einen fünfjährigen degressiven Lohnkostenzuschuss (100 % - 70% des gesetzlichen Mindestlohns) geben. Auch hier ist der Einbezug in die Sozialversicherung beschränkt auf Rentenversicherung, Pflegeversicherung und Krankenversicherung.
Erwerbslose sollen auch künftig "aktiviert " werden
Diese Pläne klingen zunächst positiv, müssen aber auch kritisch betrachtet werden. Das Gesetzesvorhaben zeigt, dass ein Bruch mit der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, wie sie seit Ende der 1990er Jahre - besonders markant im Rahmen der Agenda 2010 - umgesetzt wird, nicht gewollt ist. Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik beruht sowohl auf der politischen Schuldzuweisung für Erwerbslosigkeit an die Erwerbslosen selbst als auch auf der These, dass sozialrechtliche und arbeitsrechtliche Schutzregeln die Marktgängigkeit der Arbeitskraft zu jedem Preis untergraben. Daher wurde politisch dafür gesorgt, dass z.B. die Zumutbarkeitsregeln (unter welchen Bedingungen sind Bezieher*innen von Arbeitslosengeld I oder II verpflichtet, eine Arbeit anzunehmen) verschärft worden sind. Auch die Förderung von Beschäftigungsverhältnissen mit öffentlichen Mitteln als ein Baustein der Arbeitsförderung - neben der Förderung der beruflichen Weiterbildung - wurde in den letzten Jahrzehnten verschlechtert. Diese Verschlechterung bestand vor allem darin, dass der materielle und rechtliche Status der geförderten Beschäftigung herabgesetzt wurde. So wurden geförderte Arbeiten im Lauf der Jahre in der Regel immer geringer bezahlt als ungeförderte Arbeit. Gleich nach der Einführung von Hartz IV wurde die Förderung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung auf Basis eines Arbeitsvertrags zur Ausnahme. Ausgebaut wurden die Arbeitsgelegenheiten / Ein-Euro-Jobs, zu denen erwerbslose Leistungsberechtigte gezwungen werden konnten. Hier handelt es sich um diskriminierende Beschäftigung. Die Menschen arbeiten, werden aber nicht als Arbeitnehmer*innen behandelt. Selbst bei den verbliebenen Formen öffentlich geförderter Beschäftigung mit Sozialversicherung und Arbeitsvertrag gab es keine Gleichbehandlung: Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wurden nicht gezahlt. Die Tür zu rechtlichen Ansprüchen in der Arbeitslosenversicherung wurde versperrt.Diese Linie eines Abbaus bzw. Ausschlusses von sozialen Rechten, von „social citizenship“ für Menschen, die Phasen der Erwerbslosigkeit durchlaufen, setzt auch das Teilhabechancengesetz fort.
Zu kritisieren ist besonders, dass die geförderten Arbeitnehmer*innen sich mit keinem der Instrumente eine Anwartschaft in der Arbeitslosenversicherung erarbeiten können und dass sie im zweiten Instrument nur auf Basis des gesetzlichen Mindestlohns gefördert werden. Das wird dazu führen, dass lediglich Alleinstehende in Orten mit niedrigen Mieten eine geringe Chance haben werden, sich vom Leistungsbezug und der damit verbundenen Gängelung durch die Jobcenter zu befreien. Die Höhe des Einkommens und die zu bezahlenden Mieten entscheiden ja darüber, ob jemand finanziell hilfebedürftig ist und entsprechende Leistungen des Jobcenters erhält. Die aktuelle Höhe des Mindestlohns vermeidet nur bei niedrigen Mietkosten die Hilfebedürftigkeit. Bei Haushalten von Alleinerziehenden oder Paaren mit Kindern ist die Chance, auf Basis von Bezahlung nach dem gesetzlichen Mindestlohn die Bedürftigkeit zu vermeiden, nicht mehr vorhanden. Die Förderung nur auf Basis des gesetzlichen Mindestlohns wird auch dazu führen, dass die Anzahl der Arbeitgeber, die das Förderinstrument nutzen wollen, in Bereichen mit Tarifbindung möglicherweise niedrig sein wird, denn die Arbeitgeber müssen ja dann die Differenz selber aufbringen.
Arbeitsmarktintegration mit ausgrenzenden Mitteln?
An diesen Gesetzesvorhaben der aktuellen Bundesregierung zeigt sich die Widersprüchlichkeit, dass die Integration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt offensichtlich nur mit ausgrenzenden Mitteln gedacht wird. Die Überwindung von Erwerbslosigkeit erweist sich als prekäre Überwindung, weil Erwerbsarbeit nach wie vor unter besonderen, diskriminierenden Bedingungen gefördert wird. Somit passt der Titel des Gesetzes als „Teilhabechancengesetz“ auch wirklich. Denn tatsächlich haben alle Mitglieder einer Gesellschaft an ihr teil. Sozial und politisch entscheidend ist aber das Niveau der Teilhabe, die materiellen, sozialen und rechtlichen Ressourcen. Das Vorhaben der Bundesregierung verweist Erwerbslose auf die unteren Plätze in der Hierarchie gesellschaftlicher Teilhabe.
Politisch vernünftig wäre es gewesen, sich auf ein neues Regelinstrument mit voller Sozialversicherungspflicht und tariflicher Bezahlung zu konzentrieren. Ab zwei Jahren Langzeitarbeitslosigkeit sinken die Chancen auf Einstellung massiv, weshalb man die öffentlich geförderte Beschäftigung für diese Zielgruppe hätte öffnen sollen. Es bleibt unklar, warum diese in dem Vorhaben außen vor gelassen werden. Interessierte Erwerbslose, die die Voraussetzungen erfüllen, hätten sich dann auf die geförderten Stellen bewerben können wie auf andere Arbeitsplätze auch. Falls sie in diesem Prozess Unterstützung wünschten, ließe sich das auch organisieren. Das wäre dann wirklich ein Abschied gewesen von der aktivierungspolitischen Botschaft „jede Arbeit ist besser als keine“ und der Verpflichtung dazu. Es hätte gezeigt, dass man Menschen, nur weil sie erwerbslos sind, nicht von „guter Arbeit“ ausschließen will.
Zum Autor:
Wolfgang Völker ist beruflich in Hamburg beim Diakonischen Werk tätig, Mitglied der Redaktion der Zeitschrift "Widersprüche" und arbeitet u.a. beim Hamburger Netzwerk SGB II Menschen-Würde-Rechte mit, in dem sich Sozialarbeiter*innen, Erwerbslose, Rechtsanwälte und sozialpolitisch Interessierte mit Programmatik und Alltag des aktiverenden Sozialstaats auseinandersetzen.