1977 trat das reformierte Strafvollzugsgesetz in Kraft. Dort war angekündigt, die Paragrafen zur Sozialversicherung solle „durch besonderes Bundesgesetz (...) in Kraft gesetzt“ werden. Geplant war unter anderem, arbeitende Gefangene in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Das versprochene Bundesgesetz wurde jedoch bis heute nicht erlassen, geregelt sind bislang lediglich die Unfall- und die Arbeitslosenversicherung, Strafgefangene haben zudem keinen Anspruch auf Kranken- und Pflegeversicherung während der Haft.
Wer von den derzeit rund 50.500 Strafgefangenen in Deutschland (Stand 31.3.2019) längere Zeit inhaftiert ist, dem droht die Altersarmut. Denn die Arbeit im Gefängnis wird schlecht entlohnt: Der durchschnittliche Stundenverdienst betrug im Jahr 2016 nach den Angaben der Bundesregierung 1,58 Euro, was einem durchschnittlichen Tagesverdienst von 12,55 Euro entspricht und weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. Selbst in der höchsten Vergütungsstufe der Strafvollzugsordnung wird damit ein Stundensatz von weniger als 2 Euro erreicht. Zudem erwerben Strafgefangene keine Rentenansprüche – Menschen, die lange Zeit inhaftiert sind, werden also doppelt bestraft: Sie stehen nach ihrer Entlassung oft ohne Wohnung da, sind ohne familiäre Unterstützung und müssen befürchten, spätestens im Alter zum Sozialfall zu werden. Strafgefangene bekommen also durch den niedrigen Lohn und den Ausschluss aus der Rentenversicherung noch lange nach der Haft die Folgen ihrer Taten zu spüren.
Die im Strafvollzug real erreichten „Arbeitsentgelte“ sind mit Blick auf die Alterssicherung ungenügend, insofern bei der Rentenberechnung ein Verdienst in Höhe des tatsächlich erzielten Einkommens angesetzt wird. Aus diesem Grund diskutiert man in diesem Rahmen stets über entsprechend höhere fiktive Beitragsbemessungsgrundlagen. In Anlehnung an die Pläne von 1976 fordert das Grundrechtekomitee als Bezugsgröße einen Satz von 90%.
Die Zeit in Haft wird bei der Rentenberechnung zudem nicht berücksichtigt, anders bei Studium, Mutterschaft oder Arbeitslosigkeit: Es ist, als würden Strafgefangene gar nicht existieren. Ihnen steht zwar grundsätzlich die Möglichkeit offen, sich freiwillig zu versichern, die notwendigen Beiträge müssten sie dann selbst entrichten. Angesichts ihrer äußerst geringen Verdienste stellt aber selbst der zu entrichtende Mindestbeitrag von aktuell 83,70 Euro pro Monat eine Überforderung dar. Zudem sei angemerkt, dass in deutschen Gefängnissen bundesweit knapp 39.000 Strafgefangene arbeiten, was 77% der Inhaftierten entspricht: 11.500 Menschen arbeiten aus verschiedenen Gründen nicht. In einigen Bundesländern – etwa in Sachsen und im Saarland – stehen nur knapp mehr als 50% aller Strafgefangenen in einem Arbeitsverhältnis. Die Forderung nach einer Einbeziehung von arbeitenden Strafgefangenen in die Rentenversicherung käme also einer Vielzahl von Personen zugute. Aber nicht allen.
Eine Petition für die Würde von Strafgefangenen
2011 hatte das Grundrechtekomitee zusammen mit der Humanistischen Union, dem Strafvollzugsarchiv Bremen, der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen und weiteren Organisationen eine Petition eingereicht: „Der Deutsche Bundestag möge beschließen: Gefangene, die im Strafvollzug einer Arbeit oder Ausbildung nachgehen, werden in die Rentenversicherung einbezogen. Die seit über 30 Jahren suspendierten §§190-193 des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) werden gemäß § 198 Abs. 3 StVollzG – in angepasster Form – in Kraft gesetzt.“ Drei Argumente waren dabei zentral:
- Die Einbeziehung in die Rentenversicherung ergibt sich aus dem Wiedereingliederungsauftrag des Strafvollzuges, denn eine eigenverantwortliche Lebensführung nach der Entlassung bedarf der sozialen Absicherung.
- Die Würde des arbeitenden Strafgefangenen wird angetastet, wenn seine Arbeitszeiten keine (sozialversicherungsrechtliche) Anerkennung finden.
- Das Gleichheits- und das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes werden verletzt, wenn die Arbeit im Strafvollzug nicht mit üblicher Arbeit gleichgesetzt wird.
Weiterhin hieß es in der Begründung unserer Petition: „Zusätzlich zu solchen grundrechtlichen Erwägungen hat der Ausschluss der Gefangenen aus der Rentenversicherung – neben der geringen Entlohnung – konkrete praktische negative Folgen: Wegen der großen Versicherungslücken durch Haftzeiten beträgt die Rente im Alter eine Höhe, von der niemand leben kann. Bei längerer Inhaftierung kann es passieren, dass die rentenrechtlich vorausgesetzten Zeiten gar nicht erfüllt sind. Bei der Erwerbsminderungsrente kann sich eine mehr als zweijährige Haft bereits so auswirken, dass schon erworbene Anwartschaftszeiten sogar entwertet werden. Dies bedeutet eine Verletzung des in Artikel 14 Grundgesetz verbürgten Grundrechts auf Eigentum.“ .
Zu Beginn hielt der Gesetzgeber die Einbeziehung von Strafgefangenen in die sozialen Sicherungssysteme für „unentbehrlich“ und betonte, dass es „nicht gerechtfertigt ist, neben den notwendigen Einschränkungen, die der Freiheitsentzug unvermeidbar mit sich bringt, weitere vermeidbare wirtschaftliche Einbußen zuzufügen“ (BT-Drs. 7/918, 67). In den Jahren 1979 und 1981 hatte es zwei vergebliche Versuche gegeben, das Gesetz zu erlassen (BT-Drs. 8/3335 und 9/566). Beide Gesetzentwürfe scheiterten am Widerstand des Bundesrates. In dem Statement der Bundesregierung zu dessen Stellungnahme war 1981 sogar von einem „Gesetzesbefehl“ die Rede.
2018 – Ein neuer Anlauf ohne Konsequenz
Seitdem hatten sich Fachministerkonferenzen der Länder des Themas angenommen, die Justizministerkonferenzen hatten sich wiederholt für eine Einbeziehung ausgesprochen. Zuletzt hatte die Justizministerkonferenz der Länder im Juni 2018 einen neuen Anlauf versucht, die in Haft arbeitenden Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung aufzunehmen. Wieder wurde dies als „sinnvoll“ erachtet (Beschluss TOP II.26, 6./7. Juni 2018) – Das Gremium hielt dies aber bereits vor zehn Jahre schon für „sinnvoll.“ Die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz Dr. Katarina Barley wurde aufgefordert, sich bei dem Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil für eine entsprechende Änderung des 6. Sozialgesetzbuches (SGB VI) einzusetzen, die keine zusätzliche Belastung der Länderhaushalte verursache. Auch die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) begrüßte den letzten Vorstoß, sprach sich (TOP 5.14, 5./6. Dezember 2018) allerdings zugleich gegen eine für die Länderhaushalte kostenneutrale Änderung des SGB VI aus, falls diese mangels Beitragszahlungen zu Lasten der Versicherten gehen würde. Sie fürchten, der Bund könnte die Rentenbeiträge auf die Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen abwälzen.
Das Komitee hatte 2018 nach dem Beschluss der Justizminister*innen alle Landesjustizministerien angefragt, wie sie den Beschluss umzusetzen gedenken. Nicht alle reagierten, die meisten Antworten blieben oberflächlich und allgemein. Nur eine Antwort war gehaltvoll – im negativen Sinne. Die Antwort des Justizministers Tobias Berger in Schleswig-Holstein vom 23. Mai 2019 diskutiert die berufliche Qualifizierung von Strafgefangenen gegen die Forderung nach der Einbeziehung in die Rentenversicherung:
"Der tatsächliche Rentenbezug trifft in den allermeisten Fällen erst Jahrzehnte nach der Haftentlassung ein. Eine Wirkung auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach der Haft kann also in der Regel nicht angenommen werden bzw. ist nicht empirisch belegt. Durch eine Einbeziehung würde sich zudem in den allermeisten Fällen keine Verbesserung der finanziellen Situation beim Renteneintritt ergeben, da bereits bei Haftantritt eine Erwerbsbiographie gegeben ist, die einer eigenständigen Altersversorgung absehbar unumkehrbar entgegensteht. Im Bedarfsfall können ebenso wie in anderen Bedarfsfällen ohne haftbedingte Versorgungslücken Ansprüche aus dem sozialen Sicherungssystem des AGB XII (Grundsicherung, Wohngeld) geltend gemacht werden. Eine sehr große Bedeutung kommt demgegenüber der schulischen und beruflichen Qualifizierung der Gefangenen zu. Die Einbeziehung der Gefangenen erfolgt – da diese darauf angelegt ist, in der Regel direkt nach der Haftentlassung zu einem Leistungsanspruch zu führen – wenn der nahtlose Übergang in den Arbeitsmarkt nicht gelingt.“
Zuletzt fand die Bundesregierung in einer kleinen Anfrage im März 2019 klare Worte: Da die Länder weiterhin keine Bereitschaft signalisiert hätten, die bei einer Einbeziehung der Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten anfallenden Beiträge zu tragen, sehe die Bundesregierung derzeit keine weiteren Schritte vor.
Fazit
Zwar ist der Bund für eine entsprechende Gesetzesänderung zuständig, wegen der anhaltenden Weigerung der Länder, für die Arbeit der Inhaftierten die fälligen Rentenbeiträge zu übernehmen, gibt es hinsichtlich der Forderung allerdings keine Fortschritte. Aufgrund des Zieles, möglichst keine finanziellen Mehrkosten zu tragen, verhallt die Forderung nach einer Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung ungehört. Im Zuge des Abbaus des Sozialstaats und der Rentenfrage generell rückt das Anliegen zudem in weite Ferne. Auch scheint mir die gesellschaftliche Position zu erstarken, Strafgefangene seien allein für ihr Schicksal verantwortlich, es herrscht wenig Verständnis vor, dass ihre Resozialisierung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Perspektivisch erscheint es uns als Grundrechtekomitee daher nötig, weiterhin auf das grundgesetzliche Defizit hinzuweisen und die Einbeziehung der Strafgefangenen in die Rentenversicherung zu fordern. Darüber hinaus sollten wir uns der Forderung nach einem Mindestlohn auch für die Gefangenenarbeit in den Gefängnisbetrieben anschließen, wie dies die Gefangenengewerkschaft GG/BO fordert, sowie die Einbeziehung in die Krankenversicherung. Unsere Aufgabe bleibt es zudem, darauf hinzuwirken, dass die Bedürfnisse und Rechte von Strafgefangenen weiterhin hör- und sichtbar bleiben. Denn der Ausspruch von Fjodor Dostojewski ist bis heute aktuell: „Den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft kann man am Zustand ihrer Gefangenen ablesen“.
Der Beitrag wurde auf der Sitzung des Arbeitskreises „Hilfen für Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten" beim Deutschen Verein am 23. Jan 2020 in Berlin gehalten und ist Teil des Heftes Informationsdienst Straffälligenhilfe 1/2020 der BAG-S