Angesichts vergleichsweise geringer Impfquoten gegen Covid-19 wird in Deutschland seit Monaten über Impfpflichten diskutiert. Bundestag und Bundesrat haben im Dezember 2021 bereits eine einrichtungsbezogene Impfpflicht für Beschäftigte in der Pflege und im Gesundheitswesen beschlossen. Doch auch eine allgemeine Impfpflicht steht weiterhin zur Debatte – der Bundestag beginnt im März seine Beratungen.
Als Grundrechtekomitee sind wir eindeutig für das Impfen und distanzieren uns klar von pauschaler Impfskepsis. Zugleich wissen wir um die komplexen Herausforderungen, bei der Eindämmung der Corona-Pandemie individuelle Freiheitsrechte und kollektiven Gesundheitsschutz zusammenzudenken. Wir haben das Vorhaben einer allgemeinen Impfpflicht intern intensiv debattiert. Unsere Diskussionen haben ergeben, dass wir – zumindest zum aktuellen Zeitpunkt – eine allgemeine Impfpflicht primär aus den folgenden Gründen ablehnen:
1. Die bisherigen Impfkampagnen in Bund und Ländern waren unzureichend. Die Möglichkeiten der verantwortlichen Stellen wurden bisher nicht flächendeckend ausgeschöpft. Die Aufklärungs- und Vertrauensarbeit blieb ungenügend. Neben einem Mangel an auch sprachlich leicht zugänglichen Informationen und Beratungsangeboten existieren vielerorts praktische Zugangsbarrieren zu Impfungen. Vor allem im ländlichen Raum gibt es eine unzureichende Abdeckung an Praxen von Ärzt*innen sowie mobilen Impfmöglichkeiten. Um eine Impfpflicht zu rechtfertigen, wäre es notwendig, zuvor alle anderen Maßnahmen auszuschöpfen. Das ist bisher nicht der Fall.
2. Eine Impfpflicht würde nach Stand der aktuellen Debatten wohl auf ein Sanktionierungssystem bei Verstößen hinauslaufen. Das Strafsystem könnte Geldzahlungen bis hin zur Ordnungshaft bei Nichtzahlung umfassen. Diese Strafen würden unterprivilegierte Gruppen besonders stark treffen, während ressourcenstarke Personen leichtere Möglichkeiten hätten, die Sanktionen zu umgehen oder in Kauf zu nehmen.
Zudem sind bereits jetzt Menschen, die kein gültiges Ausweisdokument haben, faktisch von weiten Teilen des öffentlichen Lebens bis hin zum ÖPNV ausgeschlossen, da sie diesen bei einer G2- oder G3-Kontrolle nicht vorzeigen können. Die Impfpflicht in ihrer bisher diskutierten Form sieht Kontrollen und die allgemeine Verpflichtung zum Vorzeigen eines gültigen Ausweisdokuments vor. Insbesondere Illegalisierten drohen damit – ganz unabhängig von ihrem Impfstatus – jederzeit willkürliche Kontrollen.
Wir lehnen strikt ab, dass Menschen Strafen drohen, die einen prekären und unsicheren Zugang zum Gesundheitssystem haben – sei es wegen Armut, Aufenthaltsstatus oder sprachlichen Barrieren. Das Grundrechtekomitee plädiert für nicht-repressive Maßnahmen, um die Impfquote zu erhöhen.
3. Ideologisch motivierte Impfgegner*innen wird man auch über eine Impfpflicht nicht überzeugen. Laut Berichten haben entsprechende Milieus oft leichten Zugang zu gefälschten Attesten oder Impfpässen. In Hochburgen von Impfgegner*innen wie Ostsachsen haben Lokalpolitiker*innen angekündigt, eine allgemeine Impfpflicht nicht umzusetzen. Es ist davon auszugehen, dass viele ideologische Impfgegner*innen Wege finden werden, eine Impfpflicht zu umgehen. Die geringe Chance auf Erfolg in diesen Kreisen rechtfertigt nicht die Grundrechtseinschränkung für die restliche Bevölkerung.
4. Der passende Zeitpunkt für die Einführung einer Impfpflicht ist laut Expert*innen vorbei. Der Deutsche Ethikrat sprach bereits im Dezember 2021 davon, dass eine allgemeine Impfpflicht die Omikron-Welle nicht brechen könne, da es einige Zeit dauere, bis bei Geimpften ein guter Immunschutz vorliege. Die Impfpflicht wird also nichts Wesentliches an der aktuellen Corona-Lage ändern. Nichtsdestotrotz rät der Deutsche Ethikrat zu einer allgemeinen Impfpflicht, um „gravierende negative Folgen möglicher künftiger Pandemiewellen“ abzuschwächen oder zu verhindern. Aus dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit heraus reicht eine eventuelle Wirksamkeit in der Zukunft jedoch nicht aus, um eine aktuelle Einführung zu begründen.
5. Oft wird für eine allgemeine Corona-Impfpflicht die existierende Impfpflicht gegen Masern herangezogen. Anders als bei Masern schützen Corona-Impfstoffe jedoch weder komplett gegen eine Ansteckung noch gegen eine Weitergabe der Krankheit. Zum anderen verändert sich Covid-19 im Gegensatz zum Masern-Virus aktuell noch hochdynamisch. Aufgrund der sich dadurch häufig bildenden Mutationen ist die dauerhafte Wirksamkeit von einzelnen Impfungen zumindest gegenwärtig wenig sicher, wahrscheinlich sind periodische Auffrischungsimpfungen vonnöten. Eine allgemeine Impfpflicht müsste so möglicherweise innerhalb weniger Monate erneut, und mitunter mehrfach, mittels Sanktionen durchgesetzt werden. Auch vor diesem Hintergrund würde sich zum jetzigen Zeitpunkt ein nicht verhältnismäßiger schwerer Grundrechteeingriff ergeben.
6. In der öffentlichen Debatte wird angeführt, dass eine Impfpflicht eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern soll. Diese Sichtweise lenkt vom zentralen gesundheitspolitischen Problem ab – den strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen eines kapitalistisch zugerichteten und kaputt gesparten Gesundheitssystems. Das gegenwärtige neoliberal organisierte Gesundheitssystem muss radikal umgebaut und nach den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet werden. Dies ist aus politischen Gründen bislang nicht geschehen – trotz umfassender Proteste, unter anderem von Beschäftigten. Eine Impfpflicht würde an der unzureichenden Finanzierung, am System der Fallpauschalen sowie den schlechten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten – also an wesentlichen Gründen für die existierende Überforderung der Strukturen – nichts ändern.
Die angeführten Argumente sprechen aus unserer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt gegen eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19. Diese Position kann sich ändern – beispielsweise, falls sich eine neue, gefährlichere Corona-Variante ausbreitet, falls es zu Situationen der Triage für Corona-Erkrankte oder andere Patient*innen käme, oder wenn die Impfquoten trotz Ausschöpfung aller anderen Mittel langfristig zu niedrig bleiben.
Wie problematisch die Impfpflicht-Debatte generell ist, zeigt sich an der unredlichen Anrufung des Begriffs der Solidarität. Ständig fordern Politiker*innen Solidarität in der Pandemie ein und geben sich schockiert, wenn Pandemieverharmloser*innen auf ihre individualistische Freiheit pochen und die Corona-Maßnahmen bekämpfen. Wenn jedoch große Teile von Politik und Gesellschaft ansonsten das neoliberale Konkurrenz-System über alles stellen und den Menschen nur in seinen kapitalistisch verkürzten Einzelinteressen ernst nehmen, dann ist es nicht verwunderlich, dass einige Menschen auf die Corona-Pandemie ebenso individualistisch und egoistisch antworten – auch wenn Menschen aus unterschiedlichsten Gründen an den Corona-Demonstrationen teilnehmen mögen. Eine solidarische und emanzipatorische Lösung kann es nur in einer anderen, bedürfnisorientierten und radikal demokratischen Gesellschaftsordnung geben. Wirklich solidarisch wäre etwa eine Freigabe der Impfstoff-Patente für den globalen Süden.