937 jüdische Flüchtende versuchten 1939 vergeblich, auf dem Passagierschiff St. Louis vor dem NS-Regime zu fliehen, durften aber weder in Kuba, noch den USA oder Kanada anlanden.
Das Schiff musste auf Anweisung der Reederei schließlich nach Europa zurückkehren. Viele der Passagiere fielen ihren Nazi-Verfolgern in die Hände, nicht mehr als 250 von ihnen überlebten den Krieg. Ihre Schicksale als Folge fehlender staatlicher Aufnahmebereitschaft waren wesentlicher Anlass für die Formulierung der Genfer Flüchtlingskonvention. Das Recht auf ein individuelles und rechtsstaatliches Asylverfahren sollte Flüchtenden zukünftig garantieren, nicht von der politischen Willkür der Nationalstaaten abhängig zu sein.
Im Juni 2023 fassten die EU-Innenminister* innen einen folgenreichen Beschluss. Nach jahrelanger gegenseitiger Blockade wurde sich auf eine umfassende Veränderung im europäischen Asylverfahren geeinigt. Es ist die faktische Außerkraftsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention.
Die harmlos klingenden Namen „Gemeinsame Asylreform“ oder „Asylkompromiss“ verschleiern zudem deren brisanten Inhalt: Nach Plänen der EU-Mitgliedsstaaten sollen Asylanträge nur noch in Schnellverfahren an den Außengrenzen entschieden werden. Es werden keinerlei individuelle Fluchtgründe mehr geprüft – allein die Fluchtroute zählt: Gilt auf dem oft langen und umständlichen Fluchtweg ein durchquerter Drittstaat als „sicher“, wird ein Asylantrag in der EU abgelehnt, der Rechtsweg wird eingeschränkt.
An der Erweiterung der Liste der „sicheren Drittstaaten“ arbeitet die EU unter Hochdruck. Für 1 Milliarde Euro soll der autokratische Präsident Saied nun verhindern, dass sich Menschen von Tunesien nach Europa aufmachen. Hunderte wurden zuletzt in der Wüste ausgesetzt.
Bis zum Asyl-Bescheid sollen der Reform der EU-Mitgliedsstaaten zufolge die Menschen in geschlossenen Lagern untergebracht werden. Denn trotzdem sie sich physisch auf EU-Boden befinden, gelten sie bis zur Entscheidung als „fiktiv nicht eingereist“, nach negativer Entscheidung folgt die Abschiebung.
Während sich die EU- Mitgliedsstaaten Flüchtende mit allen Mitteln vom Hals halten wollen, sucht Deutschland gleichzeitig händeringend nach Arbeitskräften. Es sind zwei Seiten der selben Medaille: Der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Joachim Stamp, verhandelt aktuell mit den Republiken Moldau und Georgien über Abkommen zur Regelung der Einwanderung von Fachkräften. Im Gegenzug fordert die EU, beide Länder als sogenannte sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Für deren Staatsangehörige ist Asyl in einem EU-Mitgliedsstaat dann grundsätzlich ausgeschlossen.
Das Vorgehen bedeutet die Einteilung von Menschen nur noch nach bloßer ökonomischer Verwertbarkeit. Einreisen zur Ausbeutung ist erlaubt, doch Sicherheit vor individueller Verfolgung wird ausgeschlossen. Vorbild der anvisierten Reform ist der „Erdogan-Deal“ von 2016, dessen katastrophale Auswirkungen wir seit Jahren auf den griechischen Inseln verfolgen müssen: Geflüchtete werden dort in Lagern festgehalten. Sie warten dort oft jahrelang auf einen Termin, allein um einen Asylantrag zu stellen.
Die ägäischen Inseln bieten bereits einen Ausblick auf die Zukunft Europas: Vollüberwachte Lager aus Stahl und Beton ersetzen dort die vormals provisorischen Zeltstädte des Elends, für die das Lager Moria auf Lesbos in trauriger Berühmtheit beispielhaft steht. Die hochtechnisierten „Closed Controlled Access Centres“ liegen isoliert weit abseits bewohnter Orte.
Auf Samos und Kos etwa werden die Lagerinsassen von einem Großaufgebot von Polizei und Sicherheitsdiensten bewacht, die auch für Durchsuchungen bei jeder Einlasskontrolle zuständig sind. Demütigungen und Gewaltanwendungen sind die Regel. Unterschiedliche Zugangsberechtigungen per Chipkarte, klassifiziert je nach Stand des Asylverfahrens, schränken die Bewegungsfreiheit für Bewohner* innen auch innerhalb des Lagers ein. Anwält*innen wird der Zutritt behindert.
Ein Trakt der Lager ist jeweils der Abschiebehaft vorbehalten, wo Menschen nach einem negativen Asyl-Bescheid für bis zu zwei Jahre Dauer „legal“ inhaftiert werden dürfen.
Eine ergänzende Verordnung soll den EU-Staaten zudem künftig erlauben, im Falle einer „Krise“ oder einer „ Instrumentalisierung“ den Ausnahmezustand auszurufen, der noch extremere Einschränkungen von Rechten erlaubt. Als im Jahr 2021 einige zehntausend Menschen über Belarus in die angrenzenden EU-Staaten Polen und Litauen flohen, wurde ein derartiger Ausnahmezustand genutzt, um tausende Flüchtende in einem hochmilitarisierten Grenzgebiet festzuhalten, 15.000 Soldaten zu stationieren, NGOs, Presse und medizinische Versorgung zu unterbinden – es kam gegen die Flüchtenden zu Pushbacks und brutaler Gewalt. Der Ausnahmezustand führte zu mehreren Toten.
Mit sinnentleerten Worthülsen verkauft die Bundesregierung den EU-Beschluss derweil als „historischen Erfolg“ und „Solidarität“. Doch werden auch zukünftig nicht alle EU-Mitgliedsstaaten Geflüchtete aufnehmen: sie können laut der neuen Regelung alternativ 20.000€ pro Mensch in einen Fonds zahlen oder direkt in die Flüchtlingsabwehr oder die Grenzabschottung investieren.
Die Hauptverantwortung für die Neuankömmlinge verbleibt bei den Staaten an den EU-Außengrenzen wie Italien oder Griechenland. Grenzzäune und Abschreckung halten bekanntlich Menschen nicht von ihrer Flucht ab, zu komplex sind die Fluchtgründe.
Einem EU-Diplomaten zufolge kann daher „der Migrationspakt nur funktionieren, wenn die Zahlen sinken“. Die neuen Regelungen werden also absehbar vor allem dazu führen, dass die Staaten an den Außengrenzen weiterhin auf illegale und nicht selten tödliche Pushbacks setzen, um Ankünfte zu vermeiden.
Es ist mit langen Inhaftierungen aufgrund nicht ausreichender administrativer Kapazitäten zu rechnen. Es wird zu weiterer massenhafter Illegalisierung, Kriminalisierung und dem andauernden kalkulierten Sterbenlassen von Menschen auf der Flucht kommen – zukünftig allerdings rechtlich besser abgesichert. So ist das große „Schiffsunglück“ vor dem griechischen Pylos kein Unglück, sondern Kalkül: Die vielen hunderten Toten wurden bewusst in Kauf genommen, denn um Ankünfte auf Europäischem Boden zu verhindern, greifen die EU-Mitgliedstaaten regelmäßig zu (potentiell) tödlichen Maßnahmen.
Alte Forderungen des ehemaligen Rechtsaußen-Innennimisters Horst Seehofer bis hin zur AfD, die bis vor kurzem noch empört zurückgewiesen worden waren, werden nun also politische Wirklichkeit. Zeitgleich wird in Thüringen ein AfD-Kandidat Landrat, in Sachsen-Anhalt stellt ein AfD-Politiker einen Bürgermeister, bundesweit liegt die AfD bei der Sonntagswahlfrage bei 20 Prozent.
Eine ausreichend hör- und sichtbare Kritik an den EU-Plänen ist erschreckenderweise kaum wahrnehmbar, ein wirksamer Protest bleibt aus und würde im aktuellen Stadium des Beschlusses wohl auch nur für leichte Milderung sorgen können.
Dabei stellen sich die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten mit der „Asyl-Reform“ offensichtlich gegen die zunehmenden Folgen der gegenwärtigen multiplen Krisen auf – der voranschreitenden Klimakatastrophe, der Zerstörung der Lebensgrundlagen im Globalen Süden und wachsender Verteilungskriege.
Forderungen nach einer so dringend notwendigen gesellschaftlichen und politischen Kehrtwende werden als „Frontalangriff auf das westliche Wohlstandsmodell“ abgelehnt (Boris Palmer). Abschottung nach außen um jeden Preis, um noch eine Weile länger den Wohlstand für einige gegen die vielen zu verteidigen.
Abgehängt bleibt auch die hiesige Armutsbevölkerung, aktuelle Beispiele gibt es zuhauf, etwa weitreichende Budgetkürzungen im Kultur-, Sozial- und Jugendbereich, wie etwa in Berlin-Neukölln oder die kürzlich beschlossene Anhebung des Mindestlohns um nur 41 Cent, die nicht einmal zum Inflationsausgleich reicht. Während für sämtliche soziale Belange das Geld zurückgehalten wird, stehen Milliarden für mehr Abschottung, mehr Polizei und für Aufrüstung zur Verfügung.