Wenn die Empörung über brennende Mülltonnen größer ist als die über brennende Flüchtlingsheime, scheinen die Verhältnisse auf dem Kopf zu stehen.
Über die Auseinandersetzungen in Leipzig am 12.12.2015 ist bundesweit berichtet worden. Einseitig werden „Autonome“ und „Krawallmacher“ verantwortlich gemacht, wird von einer „Schlacht“ geschrieben und der unsägliche Begriff des „offenen Straßenterrors“ von OB Burkhard Jung übernommen. Eskalationen wie die in Leipzig sind jedoch Ausdruck großer gesellschaftlicher Konflikte und sind im Zusammenhang der vorausgehenden Konflikte und der gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen.
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie beleuchtet einige dieser Aspekte in einer Stellungnahme und kommt zu dem Schluss: „Aufgabe der Polizei ist es, in solchen Konflikten nicht von Deeskalation zu schwadronieren, sondern tatsächlich deeskalierend zu wirken. Vor allem aber ist es Aufgabe der Politik, der ausländerfeindlichen, rassistischen und nationalistischen Stimmung in der Gesellschaft entgegenzuwirken und diese nicht noch durch die eigene Politik zu befördern.“
Gegendemonstrationen in Leipzig am 12.12.2015
Wenn die Empörung über brennende Mülltonnen größer ist als die über brennende Flüchtlingsheime, scheinen die Verhältnisse auf dem Kopf zu stehen.
Seit Samstag, 12.12.2015, wird wieder einmal bundesweit über „die Autonomen“, „die Chaoten“, „die Krawallmacher“ geschimpft, die für die Auseinandersetzungen in Leipzig verantwortlich gemacht werden. Selbstverständlich wird dazu aufgefordert, sich zu distanzieren.
Für den 12.12.2015 hatten die ausländerfeindliche „Offensive für Deutschland“, die nationalistische Partei „Die Rechte“ und „Thügida“ zu einem Sternmarsch in den linksalternativen Leipziger Stadtteil Connewitz aufgerufen. Ein breites Bündnis rief zu Gegendemonstrationen und Gegenkundgebungen auf.
Die Medien berichten am Montag danach: „Eine Schlacht mitten in Leipzig – Ausschreitungen bei linker Demo“ (Mitteldeutsche Zeitung) – „Linke Krawalle zwischen ,Straßenterrorʻ und ,Zerstörungswutʻ“ (Tagesspiegel) – „,Das ist offener Straßenterrorʻ – Linksextremisten sorgen für heftige Krawalle am Rande von Nazi-Demo in Leipzig“ (Frankfurter Rundschau) – „Deckmäntelchen des Antifaschismus – Warum sich nach den Ausschreitungen in Leipzig auch die Linkspartei von den Tätern distanziert“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Den Begriff vom „offenen Straßenterror“ hatte der OB Burkhard Jung völlig unhaltbar in die Diskussion gebracht und gegen „Anarchisten“, „Autonome“ und „Kriminelle“ gehetzt. Sie hätten sich „das Deckmäntelchen des Antifaschismus übergeworfen, um den Staat anzugreifen“. Jedem muss klar sein, dass mit dem Begriff „Straßenterror“ der nationalsozialistische Terror gemeint ist, der von NSdAP, SS und SA ausging und Menschen bedrohte.
Nun ist es nichts Neues, dass offizielle Politik und Polizei Proteste diffamieren und zur Distanzierung von den „Chaoten“ aufrufen. Nach dem Castortransport 1996 sprach Innenminister Kanther in der Aktuellen Stunde des Bundestags vom „unappetitlichen Pack“, die CSU-Landesgruppe im Dt. Bundestag von „gewaltbereiten Chaoten“. Die Bäuerliche Notgemeinschaft im Wendland antwortete darauf: „Wir sind die Chaoten!“ und machte deutlich, dass sich der Widerstand nicht auseinanderdividieren lässt. Die Protestierenden kennen die Wege der Diffamierung des ganzen Protestes und wissen besser, was tatsächlich geschehen ist. Heute scheint diese Spaltung des Protestes leichter zu gelingen – selbst Linke und Grüne sollen sich distanziert haben. Immerhin berichtet die FAZ auch: „Vertreter der Gegendemonstranten warfen dagegen der Polizei vor, unverhältnismäßig, darunter mit Tränengas und Wasserwerfern, auch gegen friedliche Demonstranten vorgegangen zu sein.“
Wenn es zu solchen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt – vor allem zu Sachbeschädigungen, vielleicht im Einzelfall auch zu Menschen bedrohender Gewalt, ist jedoch zunächst zu untersuchen, in welchem gesellschaftlichen Kontext die Proteste stattfanden, welche Vorerfahrungen gemacht wurden, wie die politischen Verhältnisse insgesamt gestaltet sind. Sodann ist möglichst genau zu beschreiben, wie es in den konkreten Situationen zur Eskalation kommen konnte.
Gewalt geht immer auch von den Vertretern des legitimen Gewaltmonopols aus, also von der Polizei. Diese muss aber angemessen handeln und vor allem verhältnismäßig in der Wahl ihrer Mittel sein. Und sie ist dazu verpflichtet, deeskalierend zu wirken.
Geschichte der Proteste und Gegenproteste
Proteste gegen die Versammlungen von NPD, Kameradschaften, Pegida, Legida, Kögida … – also gegen all die Versammlungen, die ihr Grundrecht nutzen, um gegen die Menschenrechte, die per definitonem für alle gelten, zu protestieren, um ihre abscheuliche, undemokratische Gesinnung aus Hass und Menschenfeindlichkeit vorzutragen – sind demokratisch dringend geboten. Die Erfahrungen zeigen – da wäre aus der Geschichte des Umgangs mit den Demonstrationen von NPD und Kameradschaften anlässlich des „Gedenkens“ der Bombardierung Dresdens zu lernen –, dass solche Gegendemonstrationen den gesellschaftlichen Diskurs befruchten, ein Nachdenken innerhalb der Gesellschaft anregen und diesen Gesinnungen Grenzen aufzeigen. In Leipzig war dies über Jahre selbstverständlich, was in Dresden erst durch die Kampagne „Dresden – nazifrei!“ erreicht wurde. Ein solcher Protest muss in jeder Stadt willkommen sein.
Inzwischen ist es in vielen Städten selbstverständlich, dass ein breites Bündnis von Kirchen bis Gewerkschaften, von CDU bis zur Partei Die Linke sich „querstellen“. Das OVG Münster (Az. 5 A 1701/11) hat in einem grundlegenden Urteil klargestellt, dass Sitzblockaden – auch dann, wenn sie sich gegen andere Versammlungen richten – zunächst und vor allem vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckt und keine Straftaten sind. Demokratie bedarf dieser Auseinandersetzung. „Die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe ist verfassungsrechtlich bis zur Grenze der Unfriedlichkeit geschützt. Unfriedlich ist eine Versammlung erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden. Es genügt hingegen nicht, dass es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. (…) Eine tatbestandliche grobe Störung liegt jedoch erst in der Bildung einer unüberwindlichen Blockade von nicht unerheblicher Dauer, die nicht ohne Weiteres umgangen werden kann.“ Längst ist in den meisten Städten und Dörfern selbstverständlich, dass Protest in Hör- und Sichtweite des Protestziels stattfinden können muss.
In Leipzig aber scheinen sich die Zeiten in den letzten Jahren in die gegenteilige Richtung verändert zu haben. Ermittlungsausschuss Leipzig und Rote Hilfe Leipzig berichten: Die Gegenproteste gegen Legida wurden – ohne Anlass – videographiert, weiträumige Absperrungen und Durchsuchungen sollten von der Teilnahme an den Gegenprotesten abschrecken. Schon wegen einfacher Blockadeversuche wurde gegen Demonstrierende ermittelt und wurden Bußgeldbescheide erlassen. Gegen Demonstrierende wurde mit Pfefferspray, Schlagstock und Pferden vorgegangen. Wieder einmal wurde – rechtswidrig – gegen diejenigen ermittelt, die durchgestrichene Hakenkreuze als Ausdruck des Protestes trugen.
Es bleibt aber auch ein Phänomen Sachsens. In Markkleeberg stellten sich am 25. Oktober 2015 Protestierende einem Aufzug der „Offensive für Deutschland“ entgegen und wurden von der Polizei eingekesselt. Sie wurden einer stundenlangen ID-Behandlung unterzogen. Viele weitere Begebenheiten wären zu berichten.
Auch der Blick auf die ausländerfeindlichen Gewalttaten in der ganzen Republik gehört in diesen Zusammenhang. Überall brennen Flüchtlingsunterkünfte, werden fremd aussehende Menschen angegriffen. Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit und Rassismus sind bis weit in die Mitte dieser Gesellschaft akzeptabel geworden
DIE ZEIT berichtet am 3. Dezember 2015: „Mehr als 200 Mal haben Täter in diesem Jahr Flüchtlingsheime angegriffen. Gefasst wurde kaum jemand.“. 104 Menschen wurden bei diesen Übergriffen verletzt.
Zurück nach Sachsen: Im August fanden in Heidenau im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Freistaat Sachsen) Ausschreitungen gegen Migranten statt. Heidenauer und Zugereiste, teilweise rechtsextreme Sympathisanten, demonstrierten gegen eine neu eröffnete Flüchtlingsunterkunft und versuchten das Ankommen von Flüchtlingen zu verhindern. An den fremdenfeindlichen Protesten beteiligten sich über 1000 Personen, die zwei Abende lang Polizei und die Unterkunft der Flüchtlinge gewalttätig angriffen. Der Protest gegen diese Rassisten und ein Willkommensfest für die Flüchtlinge aber sollte per Versammlungsverbot verhindert werden. Erst die Gerichte hoben dieses Verbot auf.
#12.12. - Was ist Samstag passiert?
Der Samstag in Leipzig ließe sich auch so beschreiben: „In Leipzig (Sachsen) demonstrierten 130-150 für Intoleranz und 2.500 für Toleranz und Vielfalt.“
Im Internet sind viele Beschreibungen zu finden, die deutlich machen, dass jede einseitige Schuldzuweisung der Eigendynamik des Tages nicht gerecht wird. Wieder einmal wurde versucht, jeden Protest in Hör- und Sichtweite zu verhindern. Wieder einmal machte die Polizei von Beginn an deutlich, dass sie ihr „Gegenüber“ in den Gegendemonstrierenden sah, die zu überwachen und zu kontrollieren seien.
Viele Berichte machen deutlich, wie sehr sich Bürger und Bürgerinnen von der Gewalt der Polizei bedroht gefühlt haben:
„Bereits an der ersten Kreuzung stoppte die Polizei den Zug mit Tränengas. Die ersten Steine flogen in Richtung der Polizei, ein Polizist wich aus und warf den Stein zurück auf die Demonstranten ̶ und ab diesem Moment begann das Wechselspiel aus Angriff und Flucht für die nächsten vier Stunden.“
„Bereits im Vorfeld zeigten sich manche eingesetzten Polizisten aggressiv und beleidigend und drohten unter anderem einem Anwalt ohne weitere Erklärung Prügel an. Immer wieder kam es zu fragwürdigen Szenen, Polizisten beschossen ohne ersichtlichen Grund angemeldete Kundgebungen mit Tränengas.“ „Kleingruppen wurden unvermittelt durch die Straßen gejagt“ „Wir haben gerufen: ,Wir sind friedlich, was seid Ihr?'—und als Antwort haben die uns mit Pfefferspray eingenebelt", berichten Gegendemonstrierende.
Schon früh wurde auch wieder der Jugendpfarrer Lothar König mit seinem „Lauti“ (Lautsprecherwagen), mit dem er zur Deeskalation beitragen will, Opfer polizeilicher Gewalt. Er wurde in Gewahrsam genommen. Zunächst war von „Schwerem Landfriedensbruch“ die Rede, inzwischen wird wegen Anfangsverdacht des aufwieglerischen Landfriedensbruchs ermittelt. Schon einmal wurde König in Dresden ein Prozess gemacht, der kläglich scheiterte. Polizeibeamte hatten als Zeugen gelogen, und Beweismaterial war durch die Polizei manipuliert worden. (vgl. Grundrechte-Report 2014: Stolle)
Eine Leipziger Gruppe von Demonstrationsbeobachter*innen berichtet über einige von ihnen am 12.12.2015 beobachtete Szenen. Eingesetzte Wasserwerfer wurden auch gegen unbeteiligte Dritte gerichtet. Dabei wurde eine Einzelperson, die sich in einem Hauseingang aufhielt, gezielt beschossen. Auch gegen Pressefotograf*innen wurden Wasserwerfer eingesetzt. Eine bereits zurückgedrängte Person wurde durch einen Tritt in den Rücken zu Fall gebracht. Eine Person wurde trotz erhobener Hände durch die Polizei zu Boden gerissen, um sie anschließend abzuführen. Eine kleinere Gruppe wurde heftigst durch die Polizei beleidigt („Fick dich!“, „Halt’s Maul!“, „Verpiss dich!“).
Von verschiedenen Seiten wird auch die erschreckende Situation geschildert, dass eine Person mit einer blutenden Kopfwunde gefesselt und bewusstlos, von Beamt*innen umringt, am Boden lag. Diese drehten sie um und tasteten sie ab. Ersthelfer*innen wurden erst nach einiger Zeit zur verletzten Person gelassen. Auch die Sanitäter*innen mussten erst mit den Beamt*innen diskutieren, um der Verletzen professionelle Hilfe leisten zu können. Laut deren Berichten mussten sie die zur Fesselung eingesetzten Kabelbinder selbst lösen. Dies sei nötig gewesen, da die Kabelbinder derart fest gezurrt waren, dass kein Puls fühlbar gewesen sei.
Eskalationen wie die in Leipzig sind Ausdruck großer gesellschaftlicher Konflikte, die nicht mit mehr polizeilicher Gewalt, schon mal gar nicht mit einer weiteren Aufrüstung der Polizei mit Gummigeschossen zu lösen sind. Aufgabe der Polizei ist es, in solchen Konflikten nicht von Deeskalation zu schwadronieren, sondern tatsächlich deeskalierend zu wirken. Vor allem aber ist es Aufgabe der Politik, der ausländerfeindlichen, rassistischen und nationalistischen Stimmung in der Gesellschaft entgegenzuwirken und diese nicht noch durch die eigene Politik zu befördern.
Dr. Elke Steven (Grundrechtekomitee, Geschäftsstelle Köln)
Boris Frentzel (Demobeobachter des Grundrechtekomitees, Leipzig)