Am 11. Oktober 2024 feierte das Watch-the-Med-Alarmphone sein 10-jähriges Bestehen. Das Alarmphone ist ein transnationales Netzwerk aus rund 300 Aktivist*innen auf beiden Seiten des Mittelmeeres und betreibt ehrenamtlich eine Telefonhotline für Flüchtende in Seenot.
Die Hotline ist seit seiner Gründung durchgehend besetzt, inzwischen mehr als 3.650 Tage und Nächte. Über 8.000 Boote wurden betreut – im Mittelmeer, im Atlantik und im Ärmelkanal. Der Anlass für die Gründung des Projekts im Oktober 2013 waren zwei Schiffsunglücke südlich von Lampedusa, bei denen viele hundert Menschen ertranken. Italien und Malta hatten die Rettung verzögert.
Um nicht mehr nur im Nachhinein zu recherchieren, wer für den Tod auf See die Verantwortung trägt, wollten Aktivist*innen in Echtzeit gegen das kalkulierte Sterbenlassen intervenieren. Dem Aufruf, die ehrgeizige Idee zu unterstützen, folgten hunderte Einzelpersonen und Organisationen, darunter auch das Grundrechtekomitee – Grund genug, sich die durch das Alarmphone seit einem Jahrzehnt geleistete Praxis der Bewegungsfreiheit genauer anzusehen. Nach einem Jahr Vernetzungsarbeit ging das Alarmphone am 11. Oktober 2014 online. Genau rechtzeitig: Bald konnten viele Menschen unterstützt werden, die sich während des Langen Sommers der Migration ihr Recht auf Bewegungsfreiheit nahmen.
Die Aktivist*innen begleiteten hunderte Boote, die sich von der Westküste der Türkei auf die griechischen Inseln retteten. Von dort machten sich die Menschen über die Balkanroute auf in Richtung Norden. Die Externalisierung des Grenzregimes mit der Auslagerung an Drittstaaten hat sich in den vergangenen zehn Jahren spürbar verschärft. Die Überfahrten aus der Türkei endeten abrupt im April 2016 mit dem EU-Türkei-Deal. Ab 2017ging die zunächst freundliche Kooperation mit der italienischen Küstenwache in eine Phase der Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung über. Unter anderem wurde das NGO-Schiff Iuventa festgesetzt und seine Crew angeklagt. Hautnah erlebten die Aktiven des Alarmphone ab 2016 die auf Drängen der EU realisierte Etablierung der sogenannten libyschen Küstenwache und die Einrichtung der libyschen Such- und Rettungszone. Die EU-Staaten delegieren seitdem die Migrationsbegrenzung an das Bürgerkriegsland Libyen, wobei als „Küstenwache“ bezeichnete Milizen Flüchtende mit Gewalt zurückschaffen, unterstützt durch die Aufklärungsflüge von Frontex. Im westlichen Mittelmeer ist ein ähnliches Muster zu beobachten.
Auf den Anstieg von Überfahrten aus dem Norden Marokkos nach Spanien reagierte die marokkanische Regierung auf Druck der EU, indem sie Flüchtende mit Razzien und Deportationen von der Überfahrt abzuhalten versuchte. Heute starten die Boote mit dem Ziel Spanien daher weiter südlich: Die Route vom Senegal über den Atlantik zu den Kanaren ist ungleich länger und gefährlicher. Denn wird eine Route geschlossen, wird eine andere gesucht. Längere Fahrten bedeuten steigende Gefahren und höhere finanzielle Kosten. Die Kriminalisierung von Flucht führt zu klandestiner Organisierung der Überfahrten, Menschen sind auf Schlepper angewiesen.
In der Ägäis zwischen der türkischen Westküste und den griechischen Inseln brutalisierte sich das Vorgehen der griechischen Küstenwache nach Abwahl der Syriza-Regierung im Sommer 2019 massiv. Aktuell wagen Menschen deshalb häufig die tagelange Überfahrt von der Türkei direkt nach Süditalien oder von Libyen nach Kreta, um Pushbacks zu vermeiden. Während der Corona-Pandemie waren die Häfen von Italien und Malta vorübergehend geschlossen, die staatliche Seenotrettung wurde ausgesetzt, die zivile Seenotrettung mit Auflagen verhindert. Menschen flohen trotzdem.
An den Ostertagen 2020 waren Alarmphone- Aktivist*innen damit konfrontiert, dass schutzsuchende Menschen südlich von Malta tagelang ohne Rettung auf dem Meer trieben und schließlich verdursteten. Das EU-Grenzregime tötet buchstäblich. Gegen dieses kalkulierte Sterbenlassen auf dem Mittelmeer arbeitet das Alarmphone aktuell mit 20 Schiffen und Flugzeugen der zivilen Seenotrettung zusammen.
Immer wieder melden sich auch Angehörige von Menschen, die sich auf den Weg nach Europa gemacht hatten, aber seitdem verschollen und vermutlich ertrunken sind. Für die Suche nach Vermissten gibt es keine staatlichen Stellen, die Angehörigen bleiben mit ihren Fragen und ihrer Trauer allein. Das Alarmphone unterstützt daher auch Familien und Freund*innen bei der Suche nach ihren Liebsten. Jedes Jahr gedenken Alarmphone-Aktivist*innen zusammen mit Hinterbliebenen den Opfern des Grenzregimes. Im Oktober kamen dafür zahlreiche Aktive aus verschiedenen europäischen und afrikanischen Ländern in Dakar zusammen und erneuerten ihr gemeinsames Versprechen: Der Kampf für Bewegungsfreiheit geht weiter!